Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

nommen: Manche Familien sind ge- 
wachsen und leiden unter Raumnot, 
dafür belegen andere, infolge gestopp- 
ter Mietpreise, zu grosse Flächen. Be- 
sondere Aufmerksamkeit gilt dem lo- 
kalen Kleinhandel, den Läden und den 
Handwerkern: Die sozialistische Re- 
gierung von Pavia ist unorthodox ge- 
nug, gerade dieses — in den Augen von 
Kapitalisten und Kommunisten glei- 
chermassen überlebte — Kleingewerbe 
zu erhalten, wie überhaupt demjenigen 
geholfen werden soll, der sich selber 
erhalten kann. — Damit bewahrt Pavia 
nicht nur einen Berufsstand, sondern 
auch eine städtische Ambiance, die das 
Leben in diesen Altstädten angenehm 
und schön macht. 
Diese kommunal gelenkte Sanierung 
geht nicht kampflos ab. Die Hausbesit- 
zer versenden «vorsorgliche« Kündi- 
gungen. An den Wänden hängen städ- 
tische Plakate, die die Bewohner auf- 
fordern, die Kündigungen zurückzu- 
weisen und die Wohnungen nicht auf- 
zugeben. Manche dieser Plakate sind 
von den Hausbesitzern weggerissen 
worden; auf anderen steht «Ladri» — 
Diebe —, gemeint sind die Stadtbehör- 
den! An einer Quartierversammlung 
erzählt ein Mieter: «Neulich kam mein 
Hausherr und sagte: «Man will uns das 
Haus wegnehmen; wir müssen zusam- 
menhalten.» Ich antwortete ihm: Ich 
sehe Sie heute zum ersten Mal. Bisher 
kannte ich nur Ihre Kontonummer. 
Mit meinen Einzahlungen hätte ich Ih- 
nen das Haus schon abkaufen können, 
es gehört aber weiterhin Ihnen. Eine 
Enteignung trifft also nicht uns, son- 
dern Sie.» 
Die vierte und wichtigste Stossrichtung 
der pavesischen Politik ist diejenige 
des «Decentramento», der Partizipa- 
tion und der Delegation kommunaler 
Gewalt an die Quartiere. «Decentra- 
mento» ist eine im heutigen Italien 
vielgehörte Parole, und man muss viel- 
leicht gerade gegenüber der Schweiz, 
die seit alters her ein föderalistisches 
Land ist, auf die spezifischen Unter- 
schiede der italienischen Dezentralisie- 
rungsbewegung hinweisen. Bei uns ‚in 
der Schweiz ist die lokale Tradition zu- 
gleich eine konservative; die örtlichen 
Rechte werden gegenüber dem «fort- 
schrittlichen» Zentralstaat geltend ge- 
macht. (Eine erste Ausnahme von die- 
ser Regel ist vielleicht die Bildung des 
Kantons Jura.) Italien ist traditionell 
zentralistisch: die Stosskraft der 
Staatsbildung von 1871 hat die damals 
noch existierenden örtlichen Gewal- 
ten, Fürstentümer und geistliche 
Mächte, vollkommen überrollt. Eine 
dezentralisierte Alternative zu diesem 
Zentralstaat, die Bildung von Regio- 
nen, Comprensorien und auf kommu- 
naler Ebene die Institutionalisierung 
der Quartiere konnte immer nur von 
links kommen. Vor dem Ersten Welt- 
krieg war es der linke Flügel der Libe- 
ralen, der solche Ideen aufbrachte; 
durchgesetzt haben sie sich aber erst in 
neuester Zeit unter dem Mitte-Links- 
Regime und heute verstärkt im Vor- 
feld des historischen Kompromisses. 
Die Konzeption 
der Dezentralisation 
Pavia hat Quartierkomitees gebildet, 
in dem Augenblick, wo Elio Veltri mit 
seiner linken Junta die Stadtregierung 
übernahm. Die ganze Planung, wie wir 
sie geschildert haben, ist in Auseinan- 
dersetzung mit den Quartierkomitees 
und mit den Quartieren selbst entstan- 
den; noch kleben an den Wänden die 
kontroversen Plakate dieser äusserst 
offenen Auseinandersetzung. Inzwi- 
schen ist in Italien das Gesetz über die 
Dezentralisierung beschlossen worden, 
es bestimmt, dass sich in Städten 
Quartiere auf zweierlei Art bilden 
können: Städte können Quartierräte 
mit lediglich konsultativer Bedeutung 
bilden; solche Quartierräte sind dann 
vom Stadtrat zu ernennen, und zwar 
proportional in der gleichen Zusam- 
mensetzung der Parteienzugehörigkeit 
wie der Stadtrat selbst aufgrund der 
Wahlen. Quartiere aber, die beschluss- 
fassende Zuständigkeiten erhalten, 
müssen von gewählten Quartierräten 
vertreten sein; diese Wahlen müssen 
getrennt von den Stadtratswahlen 
stattfinden. Den ersten Weg geht Bo- 
logna, den zweiten Pavia, das schon 
mit den vorbereitenden Quartierkomi- 
tees Erfahrung hatte. 
Die Institutionalisierung der Paveser 
Quartierräte ist neu; Erfahrungen lie- 
gen noch wenige vor. Wir hatten Gele- 
genheit, mit einigen Vertretern von 
Quartierräten zu sprechen. Erstaunlich 
ist die Offenheit, mit welcher sie ihre 
Konflikte gegenüber der Stadt austra- 
gen. Die Konflikte selbst entstehen aus 
alltäglichen Anlässen; denn die von 
der Stadt vorgelegten Pläne stellen die 
unmittelbaren Bedürfnisse des Quar- 
tiers gegenüber allgemeineren Absich- 
ten zurück. So wies das Quartier Val- 
lone einen Verkehrsplan zurück mit 
der Begründung, dass dieser Plan dem 
Quartier nichts biete und dass die al- 
leinige Notwendigkeit in diesem Quar- 
tier die Schaffung von Radfahrwegen 
sei. Dieses selbe Quartier möchte 
gerne eine in städtischem Besitz be- 
findliche Uferzone eine Flüsschens in 
einen zugänglichen Park verwandeln. 
Den Hinweis der Stadt, dass die Pflege 
eines solchen Parks nicht finanziert 
werden könne, konterte das Quartier 
mit dem Vorschlag, den Park in einen 
öffentlichen und einen Schrebergar- 
tenteil zu spalten und die Schreber- 
gärtner zu verpflichten, auch den öf- 
fentlichen Teil zu pflegen. So zeigt 
sich, dass die Dezentralisation nicht 
nur Partizipation, sondern tatsächliche 
Bürgerhilfe mobilisiert. 
Die umweltfreundliche Politik der 
Stadtregierung von Pavia, die die Er- 
haltung der Altstadt und der auf Stadt- 
boden befindlichen landwirtschaftli- 
chen Grünräume verfolgt, integriert 
sich in die Bemühungen der Region 
Lombardei um die Schaffung des gros- 
sen Naturparks am Ufer des Tessin. 
Der Tessin, der von der Schweizer 
Grenze bis zur Einmündung in den Po 
noch eine einigermassen ursprüngliche 
Landschaft durchfliesst und der auch 
als Fluss noch einigermassen gesundes 
Wasser enthält, ist für die grossen In- 
dustriezentren der Lombardei, insbe- 
sondere Mailand, das letzte Erho- 
lungsgebiet. Der Park des Tessin soll 
kein Nationalpark nach schweizeri- 
schem Muster werden; vielmehr ein 
Gebiet, in welchem die bestehende 
Bewirtschaftung weitergeht, ohne aber 
die Erholungsqualitäten der Land- 
schaft weiter in Frage zu stellen. Der 
Park umfasst also sowohl natürlich ge- 
bliebene Zonen wie landwirtschaftli- 
che Gebiete und sogar kleinere und 
grössere Städte, deren grösste Pavia 
selbst ist. Die Tatsache nun, dass eine 
so grosse Stadt wie Pavia Teil eines 
übergeordneten Naturparks sein soll, 
schafft naturgemäss eine Reihe von 
Konflikten. Denn es ist ein Unter- 
schied, ob die Stadt Pavia ihre Grün- 
gebiete und Flussufer für sich selbst 
und die eigene Bevölkerung erhält, 
oder ob diese Ufer ins Erholungs- 
konzept der nach Mailand orientierten 
Region gehören. 
Das Beispiel der Naturparks zeigt in 
exemplarischer Weise die Konflikte 
auf, die aus der Konzeption der Dezen- 
tralisierung entstehen können. Dezen- 
tralisierung mobilisiert einerseits Bür- 
gerkräfte für die Erhaltung der Um- 
welt, von denen man immer behauptet 
hatte, dass sie nicht mehr vorhanden 
seien. Das Decentramento bewirkt, das 
‚Wunder, dass Bevölkerungen, denen 
man die Mitsprache längst abgewöhnt 
hatte, in ihrem alltäglichen Bereich 
plötzlich doch politisch interessiert 
werden. Aber dieses Interesse lokali- 
siert sich auf einer Ebene, die überge- 
ordnete Gesichtspunkte — so meinen 
es wenigstens die Vertreter der gros- 
sen Planungen — ausser acht lässt. So 
interessiert uns in Pavia die Frage: wie 
ist Planung auf Quartierebene mög- 
lich ohne Verletzung der Interessen 
der Stadt? Und so interessiert uns auf 
regionaler Ebene die Frage: wie kann 
eine Stadt Umweltschutz betreiben, 
ohne den Bezug zur grösseren Region? 
Italien befindet sich heute in einer ent- 
scheidenden Umwandlung. Bestimmte 
übergeordnete Institutionen, die Na- 
tion, die Grosstädte, stecken in einer 
politischen Krise. Kleinere Teile, Re- 
gionen, Provinzen, Gemeinden, sind 
aber intakt und teilweise mindestens 
ebenso gut verwaltet und ebenso de- 
mokratisch regiert wie entsprechende 
Gemeinschaften nördlich der Alpen. 
Das Decentramento versucht die Hei- 
lung der Gesamtnation aus diesen in- 
takten Teilen; gleichzeitig versucht es 
die Aktivierung derjenigen Kräfte, die 
durch die Studentenrevolte von 1968 
aufgeweckt, seither aber durch politi- 
sche Misserfolge frustriert worden 
sind. Diese Kräfte aus dem Abseits ver- 
zweifelter Aktionen _herauszuholen 
und sie wieder in den Dienst der allge- 
meinen Politik zu stellen, ist wohl die 
wichtigste Funktion des Demokratisie- 
rungsprozesses, der gegenwärtig in Ita- 
lien versucht wird. Lucius Burckhardt 
GQ
	        

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