nommen: Manche Familien sind ge-
wachsen und leiden unter Raumnot,
dafür belegen andere, infolge gestopp-
ter Mietpreise, zu grosse Flächen. Be-
sondere Aufmerksamkeit gilt dem lo-
kalen Kleinhandel, den Läden und den
Handwerkern: Die sozialistische Re-
gierung von Pavia ist unorthodox ge-
nug, gerade dieses — in den Augen von
Kapitalisten und Kommunisten glei-
chermassen überlebte — Kleingewerbe
zu erhalten, wie überhaupt demjenigen
geholfen werden soll, der sich selber
erhalten kann. — Damit bewahrt Pavia
nicht nur einen Berufsstand, sondern
auch eine städtische Ambiance, die das
Leben in diesen Altstädten angenehm
und schön macht.
Diese kommunal gelenkte Sanierung
geht nicht kampflos ab. Die Hausbesit-
zer versenden «vorsorgliche« Kündi-
gungen. An den Wänden hängen städ-
tische Plakate, die die Bewohner auf-
fordern, die Kündigungen zurückzu-
weisen und die Wohnungen nicht auf-
zugeben. Manche dieser Plakate sind
von den Hausbesitzern weggerissen
worden; auf anderen steht «Ladri» —
Diebe —, gemeint sind die Stadtbehör-
den! An einer Quartierversammlung
erzählt ein Mieter: «Neulich kam mein
Hausherr und sagte: «Man will uns das
Haus wegnehmen; wir müssen zusam-
menhalten.» Ich antwortete ihm: Ich
sehe Sie heute zum ersten Mal. Bisher
kannte ich nur Ihre Kontonummer.
Mit meinen Einzahlungen hätte ich Ih-
nen das Haus schon abkaufen können,
es gehört aber weiterhin Ihnen. Eine
Enteignung trifft also nicht uns, son-
dern Sie.»
Die vierte und wichtigste Stossrichtung
der pavesischen Politik ist diejenige
des «Decentramento», der Partizipa-
tion und der Delegation kommunaler
Gewalt an die Quartiere. «Decentra-
mento» ist eine im heutigen Italien
vielgehörte Parole, und man muss viel-
leicht gerade gegenüber der Schweiz,
die seit alters her ein föderalistisches
Land ist, auf die spezifischen Unter-
schiede der italienischen Dezentralisie-
rungsbewegung hinweisen. Bei uns ‚in
der Schweiz ist die lokale Tradition zu-
gleich eine konservative; die örtlichen
Rechte werden gegenüber dem «fort-
schrittlichen» Zentralstaat geltend ge-
macht. (Eine erste Ausnahme von die-
ser Regel ist vielleicht die Bildung des
Kantons Jura.) Italien ist traditionell
zentralistisch: die Stosskraft der
Staatsbildung von 1871 hat die damals
noch existierenden örtlichen Gewal-
ten, Fürstentümer und geistliche
Mächte, vollkommen überrollt. Eine
dezentralisierte Alternative zu diesem
Zentralstaat, die Bildung von Regio-
nen, Comprensorien und auf kommu-
naler Ebene die Institutionalisierung
der Quartiere konnte immer nur von
links kommen. Vor dem Ersten Welt-
krieg war es der linke Flügel der Libe-
ralen, der solche Ideen aufbrachte;
durchgesetzt haben sie sich aber erst in
neuester Zeit unter dem Mitte-Links-
Regime und heute verstärkt im Vor-
feld des historischen Kompromisses.
Die Konzeption
der Dezentralisation
Pavia hat Quartierkomitees gebildet,
in dem Augenblick, wo Elio Veltri mit
seiner linken Junta die Stadtregierung
übernahm. Die ganze Planung, wie wir
sie geschildert haben, ist in Auseinan-
dersetzung mit den Quartierkomitees
und mit den Quartieren selbst entstan-
den; noch kleben an den Wänden die
kontroversen Plakate dieser äusserst
offenen Auseinandersetzung. Inzwi-
schen ist in Italien das Gesetz über die
Dezentralisierung beschlossen worden,
es bestimmt, dass sich in Städten
Quartiere auf zweierlei Art bilden
können: Städte können Quartierräte
mit lediglich konsultativer Bedeutung
bilden; solche Quartierräte sind dann
vom Stadtrat zu ernennen, und zwar
proportional in der gleichen Zusam-
mensetzung der Parteienzugehörigkeit
wie der Stadtrat selbst aufgrund der
Wahlen. Quartiere aber, die beschluss-
fassende Zuständigkeiten erhalten,
müssen von gewählten Quartierräten
vertreten sein; diese Wahlen müssen
getrennt von den Stadtratswahlen
stattfinden. Den ersten Weg geht Bo-
logna, den zweiten Pavia, das schon
mit den vorbereitenden Quartierkomi-
tees Erfahrung hatte.
Die Institutionalisierung der Paveser
Quartierräte ist neu; Erfahrungen lie-
gen noch wenige vor. Wir hatten Gele-
genheit, mit einigen Vertretern von
Quartierräten zu sprechen. Erstaunlich
ist die Offenheit, mit welcher sie ihre
Konflikte gegenüber der Stadt austra-
gen. Die Konflikte selbst entstehen aus
alltäglichen Anlässen; denn die von
der Stadt vorgelegten Pläne stellen die
unmittelbaren Bedürfnisse des Quar-
tiers gegenüber allgemeineren Absich-
ten zurück. So wies das Quartier Val-
lone einen Verkehrsplan zurück mit
der Begründung, dass dieser Plan dem
Quartier nichts biete und dass die al-
leinige Notwendigkeit in diesem Quar-
tier die Schaffung von Radfahrwegen
sei. Dieses selbe Quartier möchte
gerne eine in städtischem Besitz be-
findliche Uferzone eine Flüsschens in
einen zugänglichen Park verwandeln.
Den Hinweis der Stadt, dass die Pflege
eines solchen Parks nicht finanziert
werden könne, konterte das Quartier
mit dem Vorschlag, den Park in einen
öffentlichen und einen Schrebergar-
tenteil zu spalten und die Schreber-
gärtner zu verpflichten, auch den öf-
fentlichen Teil zu pflegen. So zeigt
sich, dass die Dezentralisation nicht
nur Partizipation, sondern tatsächliche
Bürgerhilfe mobilisiert.
Die umweltfreundliche Politik der
Stadtregierung von Pavia, die die Er-
haltung der Altstadt und der auf Stadt-
boden befindlichen landwirtschaftli-
chen Grünräume verfolgt, integriert
sich in die Bemühungen der Region
Lombardei um die Schaffung des gros-
sen Naturparks am Ufer des Tessin.
Der Tessin, der von der Schweizer
Grenze bis zur Einmündung in den Po
noch eine einigermassen ursprüngliche
Landschaft durchfliesst und der auch
als Fluss noch einigermassen gesundes
Wasser enthält, ist für die grossen In-
dustriezentren der Lombardei, insbe-
sondere Mailand, das letzte Erho-
lungsgebiet. Der Park des Tessin soll
kein Nationalpark nach schweizeri-
schem Muster werden; vielmehr ein
Gebiet, in welchem die bestehende
Bewirtschaftung weitergeht, ohne aber
die Erholungsqualitäten der Land-
schaft weiter in Frage zu stellen. Der
Park umfasst also sowohl natürlich ge-
bliebene Zonen wie landwirtschaftli-
che Gebiete und sogar kleinere und
grössere Städte, deren grösste Pavia
selbst ist. Die Tatsache nun, dass eine
so grosse Stadt wie Pavia Teil eines
übergeordneten Naturparks sein soll,
schafft naturgemäss eine Reihe von
Konflikten. Denn es ist ein Unter-
schied, ob die Stadt Pavia ihre Grün-
gebiete und Flussufer für sich selbst
und die eigene Bevölkerung erhält,
oder ob diese Ufer ins Erholungs-
konzept der nach Mailand orientierten
Region gehören.
Das Beispiel der Naturparks zeigt in
exemplarischer Weise die Konflikte
auf, die aus der Konzeption der Dezen-
tralisierung entstehen können. Dezen-
tralisierung mobilisiert einerseits Bür-
gerkräfte für die Erhaltung der Um-
welt, von denen man immer behauptet
hatte, dass sie nicht mehr vorhanden
seien. Das Decentramento bewirkt, das
‚Wunder, dass Bevölkerungen, denen
man die Mitsprache längst abgewöhnt
hatte, in ihrem alltäglichen Bereich
plötzlich doch politisch interessiert
werden. Aber dieses Interesse lokali-
siert sich auf einer Ebene, die überge-
ordnete Gesichtspunkte — so meinen
es wenigstens die Vertreter der gros-
sen Planungen — ausser acht lässt. So
interessiert uns in Pavia die Frage: wie
ist Planung auf Quartierebene mög-
lich ohne Verletzung der Interessen
der Stadt? Und so interessiert uns auf
regionaler Ebene die Frage: wie kann
eine Stadt Umweltschutz betreiben,
ohne den Bezug zur grösseren Region?
Italien befindet sich heute in einer ent-
scheidenden Umwandlung. Bestimmte
übergeordnete Institutionen, die Na-
tion, die Grosstädte, stecken in einer
politischen Krise. Kleinere Teile, Re-
gionen, Provinzen, Gemeinden, sind
aber intakt und teilweise mindestens
ebenso gut verwaltet und ebenso de-
mokratisch regiert wie entsprechende
Gemeinschaften nördlich der Alpen.
Das Decentramento versucht die Hei-
lung der Gesamtnation aus diesen in-
takten Teilen; gleichzeitig versucht es
die Aktivierung derjenigen Kräfte, die
durch die Studentenrevolte von 1968
aufgeweckt, seither aber durch politi-
sche Misserfolge frustriert worden
sind. Diese Kräfte aus dem Abseits ver-
zweifelter Aktionen _herauszuholen
und sie wieder in den Dienst der allge-
meinen Politik zu stellen, ist wohl die
wichtigste Funktion des Demokratisie-
rungsprozesses, der gegenwärtig in Ita-
lien versucht wird. Lucius Burckhardt
GQ