Rezensionen, Tagungen Diskussion
Adalbert Evers (Rezensent)
Margit Mayer/Roland Roth/Volkhard Brandes (Hrsg.):
Stadtkrise und soziale Bewegungen.
Europäische Verlagsanstalt, Köln 1978
Es ist schwer zu sagen, nach welchen
Notwendigkeiten oder Zufällen die
linke bundesdeutsche Debatte in ver-
schiedenen Theorie- und Praxisberei-
chen ihren Provinzialismus überwindet:
warum zehrt — um nur ein Beispiel zu
nennen — die kritische Debatte zur
Psychiatrie seit Jahr und Tag von italie-
nischen und englischen Beiträgen und
warum hat die Publizierung ausländi-
scher Beiträge zur Urbanistik und
Kommunalpolitik erst seit etwa zwei
Jahren begonnen? Lassen wir die
Frage offen und halten wir stattdessen
fest, daß der von MAYER/ROTH/BRAN-
DES herausgegebene Band zu „‚Stadtkrise
und soziale Bewegungen” ein weiterer
wichtiger Schritt auf einem Weg ist, wo
der VSA-Verlag mit Übersetzungen von
Arbeiten Castells, die Zeitschrift ARCH+
mit verschiedenen Beiträgen zur inter-
nationalen urbanistischen und kommu-
nalpolitischen Diskussion, aber auch
die Reihe „Werkberichte”’ (Lehrstuhl
Planungstheorie, RWTH Aachen) mit
ihrem Reader zur italienischen Planungs-
debatte bereits vor einiger Zeit erste
Schritte getan haben. Der nun vorliegen-
de Band enthält neben einer Einleitung
der Herausgeber vierzehn unterschied-
liche Beiträge zum Thema aus den USA,
verschiedenen europäischen Ländern
und Australien. Warum allerdings ist
fast die Hälfte aller Beiträge dem The-
ma Stadtkrise und soziale Bewegungen
in den USA gewidmet? Diese dezidierte
Schwerpunktsetzung wird von den
Herausgebern nicht näher begründet,
wobei wir nicht bestreiten wollen, daß
sie begründbar gewesen wäre, insofern
bislang in der BRD eher die italienischen
und französischen Ansätze zu Wort ge-
kommen sind.
Die Beiträge des Readers sind nach
zwei Schwerpunkten getrennt zusam-
mengestellt worden. Ein erster Teil ist
der „Analyse der städtischen Krise” ge-
widmet, ein zweiter Teil den „‚Städti-
schen und sozialen Bewegungen”.
Zu Beginn gibt der Aufsatz von Die-
ter LÄPPLE, ‚„Gesellschaftlicher Re-
produktionsprozeß und Stadtstruktu-
ren” zunächst einmal eine recht anschau-
liche Zusammenfassung verschiedener
Stränge und Ansätze der offiziellen wie
kritischen Debatte bezogen auf die Fra-
ge nach dem methodischen Ansatz ‚mit
dem der Entstehungsprozeß ungleicher
Raumentwicklung und städtische Struk-
turen zu erklären ist. Fragwürdig er-
scheint uns allerdings der dabei von ihm
selbst postulierte und skizzierte metho-
dische Weg zu einem solchen Erklärungs-
Versuch: aus immanenten Tendenzen
des fertig gewordenen kapitalistischen
Reproduktionsprozesses konkrete For-
men der Raumnutzung ableitbar machen
zu wollen, wobei dann die historische
Analyse als Geschichtsschreibung regio-
nalspezifischer Modifikationen eines
solchen „Allgemeinen” fungieren soll.
Der Leser mag selbst beurteilen, inwis-
weit die Kapitel seines Aufsatzes, die
einem solchen Versuch gewidmet sind,
diesen methodischen Ansatz plausibel
machen.
Die anderen — samt und sonders US-
amerikanischen — Beiträge des ersten
Teils operieren (mit Ausnahme des Bei-
trages von Harvey) auf einer anderen
Ebene als Läpple. Versuche einer kon-
zentrierten Darstellung der spezifischen
Widerspruchsformen, in denen sich die
Stadtkrise in den USA äußert, stehen im
Vordergrund. Zu methodischen Fragen
finden wir hier nur indirekte Hinweise.
So verhält es sich z.B. auch bei David
GORDON in seinem Beitrag zum Thema
„Kapitalistische Produktionsweise und
städtische Krise”. Er arbeitet die Unter-
schiedlichkeit der „‚,alten’” und ‚„,neuen”
amerikanischen Stadtagglomeration her-
aus, also auf der einen Seite Städten
wie New York oder Chikago, die sich
schon in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts als „‚Industriestädte” ent-
wickelten und auf der anderen Seite
Städten im Süden, Südwesten und
Westen der USA wie Dallas, die erst
nach dem ersten Weltkrieg in einem an-
deren Stadium der US-amerikanischen
ökonomischen Entwicklung zur „Reife”
kamen. Gordon versucht dabei nachzu-
weisen, wie sehr die unterschiedliche
Struktur dieser beiden Typen von Stadt
sich auf Umfang und Art ihrer Anpas-
sungsfähigkeit an aktuelle Kapitalerfor-
dernisse und damit auch Umfang und
Art ihrer jeweiligen „‚Stadtkrise”’ auswir-
ken. Implizit könnte aus diesem Auf-
satz eine Antithese zu Läpples methodi-
schem Postulat entwickelt werden: daß
nämlich räumlich ungleiche Entwick-
lung und städtische Strukturen Resultat
einer nicht allein ungleichmäßigen,
sondern auch ungleichzeitigen Entwick-
lung sind, verstanden als Zusammenstoß
und Überlagerung verschiedener Produk-
tionsweisen resp. Reproduktionsniveaus,
wobei sicherlich die Gesetze der fortge-
schrittensten Reproduktionsweisen/ni-
veaus bestimmend sind; gleichzeitig hebt
der konkrete soziale Raum, der sich bei
ihrer Durchsetzung herausbildet, auch
Spuren des Vergangenen in sich auf,
das dabei ergriffen und umgewandelt
wird. Aus den Gesetzen kapitalistischer
Reproduktion wäre demnach außerhalb
konkreter zeiträumlicher Bedingungen
keine eigene Raumstruktur ‚,ableitbar””.
Aber nicht nur an Gordons Beitrag
kann neben seinen inhaltlichen Informa-
tionen ein methodisches Problem marxi-
stischer Raum- und Stadtanalyse disku-
tiert werden. Auch der Beitrag von John
H.MOLLENKOPF (Städtische Wachs-
tumspolitik in den Vereinigten Staaten)
ist unter beiden Aspekten, den inhaltlichen
wie methodischen von Interesse. Zum
einen finden wir hier eine prägnante
Skizze jener Machtkomplexe und Allian-
zen von Interessengruppen in der ame-
rikanischen Gesellschaft, die in den
50er und 60er Jahren das politische Pro-
jekt einer systemimmanenten Sanierung
und Rationalisierung der amerikanischen
Stadt in Szene setzten. Dabei wird heraus:
gearbeitet, daß dieses Projekt nicht nur
an der Veränderung der äußeren Rahmen-
bedingungen scheiterte, sondern auch
wegen der zentrifugalen Tendenzen, die
es im Zuge seiner Realisierung bei dem
Machtblock auslöste, der es trug. Bei die:
ser Übersicht zu den Hauptlinien ameri-
kanischer Stadtpolitik in der Nachkriegs-
zeit und ihren Protagonisten insistiert
Mollenkopf auf einer wesentlichen metho-
dischen Hypothese: daß nämlich über
die Strukturierung der (amerikanischen)
Stadt nichts gesagt werden kann, wenn
nicht die zwei entgegengesetzten Träger
der Geschichte als aktive Subjekte und
in diesem Sinne auch als ‚‚stadtbestim-
mend” behandelt werden: die „„‚ökono-
mische und akkumulationsorientierte
Seite” und die „‚gemeinschaftliche an
den menschlichen Bedürfnissen orientier-
te Seite”.
In diesem Zusammenhang arbeitet
der Beitrag von Richard Child HILL ei-
nen Aspekt heraus, der im Wechsel urba-
nistischer Strategien in den letzten Jah-
ren eine zentrale Rolle gespielt hat: die
Finanzkrise der Kommunen. Bei der
Analyse der Ursachen macht Child Hill
neben der Benennung auch hier bekann-
ter institutioneller Rahmenbedingungen
(eine bestimmte Art des Föderalismus
und die zersplitterte kommunale Struk-
tur in zusammenhängenden Stadtregio-
nen) vor allem die historisch-politischen
Hintergründe deutlich: einen dort im
Unterschied zur BRD bereits weitgehend
verfestigten korporativistischen Zerfall
potentieller Subjekte des Widerstands
mit Gewerkschaften der städtischen Be-
diensteten, die Reformmaßnahmen allein
als Möglichkeit eigener Bereicherung in-
teressieren eine middle/working class,
die Steuern für „‚ineffiziente”’ Sozial-
leistungen verweigert, eine städtische Be-
wegung, die für sich allein nur Zugeständ-
nisse, nicht aber einen politischen Kurs-
wechsel erzwingen kann.
Der Aufsatz von David HARVEY (Klas-
senmonopolrente, Finanzkapital und Ur-
banisierung) hat sich im Unterschied zu
den genannten anderen amerikanischen
Beiträgen mehr vorgenommen. Er will
im illustrativen Rückgriff auf die ameri-
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