Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

4. Tatsächliche Bewegungsräume und sozial- 
räumliche Aktionssphären 
Was sind die Grenzen des „unmittelbaren 
Wohnumfeldes“? Davon ausgehend, daß eine 
bedürfnisgerechte Planung Räume anstrebt, 
die sich für regelmäßige Nutzung/ Aufenthalt 
eignen, muß man vorab feststellen, welches die 
tatsächlichen Bewegungs- und sozialräum- 
lichen Aktionssphären sind bzw. was den 
verfügbaren und annehmbaren Raum für den 
Bewohner ausmacht. Das unmittelbare 
Wohnumfeld ist wesentlich kleiner als viel- 
fach bei der Planung vorausgesetzt wird. 
Selten entfernen sich Menschen regelmäßig 
weiter als 250 bis 350 m von ihren Wohn- 
häusern. Dies sind die tatsächlichen „Bewe- 
gungsräume“, die der Bewohner als sein 
„Wohngebiet“ bezeichnet, dort hat er Über- 
blick, dort kennt er die Leute vom Sehen, dort 
geht er seine regelmäßigen Wege. 
So ergeben die tatsächlichen „Bewegungs- 
räume“ innerhalb des Wohnumfeldes ein Bild 
von drei sozialräumlichen Aktionssphären. 
Der „bewohnte hausnahe Bereich“ (20-50 m) 
wird von fast allen Bewohnern für die regel- 
mäßige Nutzung vorgezogen, wenn den 
Wohnhäusern adäquate Aufenthaltsmöglich- 
keiten zugeordnet sind. Dieser Bereich umfaßt 
je nach architektonischer Gestaltung und 
Beschaffenheit eine Zone vor und hinter dem 
Haus, die mehrmals täglich und über längere 
Zeiträume von den Bewohnern aufgesucht 
wird. Der „bewohnte hausnahe Bereich“ ist 
für viele Leute der Bereich, über den sie einen 
sicheren „Überblick“ haben. Hier ist man „zu 
Hause“, hier hat man „seinen Platz“. Für den 
„bewohnten hausnahen Bereich“, den man mit 
anderen teilt, fühlt man sich meist auch 
verantwortlich. Hier wird informelle soziale 
Kontrolle geübt als positiver Indikator für 
Gefühle der Verantwortung und Zugehörig- 
keit. Wenn im „hausnahen Bereich“ solche 
Zugehörigkeitsgefühle nicht entstehen kön- 
nen, wie z.B. in vielen Hochhaussiedlungen 
mit öffentlichen Zonen bzw. Abstandsflächen, 
die unmittelbar an die Häuser angrenzen, 
entstehen Gefühle der Anonymität: Man kann 
sich nicht dem öffentlichen, für „alle zu- 
gänglichen“ Raum zugehörig fühlen und 
entwickelt ihm gegenüber deshalb kein Ver- 
antwortungsgefühl. 
Die im Wohnumfeld zweitwichtigste Ak- 
tionssphäre ist die „erlebte Nachbarschaft“, 
der Bereich, den die meisten als ihr „Wohn- 
gebiet“ wahrnehmen und erkennen. Hier 
kennt man Leute vom Sehen, weiß, was 
passiert und wer sich wo aufhält; hier fühlt 
man sich der Nachbarschaft zugehörig. Was 
außerhalb dieses kleinen Kreises (20-150 m) 
passiert, bleibt den meisten Bewohnern un- 
bekannt. Für viele ist die andere Straße oder 
die andere Blockseite so etwas wie „eine 
andere Siedlung“ oder „feindliches Ausland“. 
Innerhalb der „erlebten Nachbarschaft“ sucht 
man Orte täglich oder mehrmals in der Woche 
für relativ kurze Zeiträume auf. In dem 
„nachbarschaftlichen Wohnquartier“, der 
dritten Aktionssphäre, werden verschiedene 
Orte je nach den Standorten der übergeord- 
neten Dienstleistungen (U-Bahn, Supermarkt, 
Parks usw.) punktuell und unregelmäßig 
einmal in der Woche oder im Monat, je nach 
Bedarf, oder auch am Wochenende aufge- 
sucht. 
Die Gestaltung und Ausstattung dieser drei 
Aktionssphären sind ausschlaggebend für die 
erfolgreiche Nutzung des unmittelbaren 
Wohnumfelds. Dabei ist zu beachten, daß die 
tatsächlichen Bewegungsräume und Aktions- 
sphären Aufschluß darüber geben, welche 
Räume die Bewohner eigentlich regelmäßig 
erschließen. Es stellt sich deutlich heraus, daß 
Angebote der Planung außerhalb der Grenzen 
dieser Räume von den Bewohnern oft nicht 
beachtet und nur selten angenommen werden. 
Legende: $ 
) Transferaktivitäten 
| | Pfiegeaktivitäten 
| N ) Aktive Telinahme 
e 
7) 
Sozialinteraktion 
| zwischen verschiedenen 
Aufenthaltsorten 
6.Transfer- 
aktivitäten im 
Sozialraum 
7. Sozialraum 
8. Sozialräum- 
liche Aktions- 
sphären- 
”Bewegungs- 
räume” 
9.10. Zuord 
nung vor 
— Wohnorten 
8. und Aufent- 
REICHWEITE : CA. 20m zwer Siedlun: 
3Min m a | A ChweiTE CA 20 100m“ gen unter- 
| schiedlicher 
[A WACHBARSCHAFTLICHE WO HNQUARTIER] 
nn REICHWEITE ı CA. 1350 -350m Bautypen 
— 
d— 
+ 
MARIANNENPLATZ 
@ Aufenthaltsort 
1 Wohnert 
SONNENALUEE 
So wird Block 100 am Mariannenplatz in 
Berlin-Kreuzberg von den Planern als eine 
Einheit betrachtet, von den Bewohnern 
werden dagegen zwei „Siedlungen“ wahrge- 
nommen. Die Spielplätze innerhalb des 
Blocks sind jedoch so angelegt, daß die 
Kleinkinder-Spielplätze in der einen Block- 
hälfte, die für ältere Kinder in der anderen 
Blockhälfte liegen. Da die Bewohner sich 
jedoch selten aus der einen Blockhälfte in die 
andere Blockhälfte bewegen, führt dies dazu, 
daß jeweils alle Kinder einer Blockhälfte den 
Spielplatz nutzen, den sie für sich räumlich als 
zugeordnet empfinden. Dies führt zu unnöti- 
gen Konflikten, besonders weil die Spielgeräte 
nicht so nutzungsoffen gestaltet worden sind, 
daß sie von allen Altersgruppen benutzt 
werden können. Ähnliches gilt z.B. für 
Abenteuerspielplätze, die überregional ge- 
plant sind, sowie ähnliche Einrichtungen (z.B. 
Jugendfreizeitheime). Solche Einrichtungen 
werden zum großen Teil durch eine bestimm- 
te Gruppe oder „Clique“ beherrscht. Diese 
Gruppe ist oft kleiner als sie dem Einzugs- 
bereich entspräche. So werden oft Einrich- 
tungen unterbelegt. In ähnlicher Weise wird 
die Mehrzahl von öffentlichen Parks und 
Spielplätzen nur innerhalb der „erlebten 
Nachbarschaft“ oder höchstens innerhalb der 
„nachbarschaftlichen Wohnquartiere“ regel- 
mäßig von Bewohnern benutzt und aufge- 
sucht. Große Investitionen in größeren 
überregionalen Einheiten bedeuten nicht 
selten geminderte Nutzung trotz der Tatsache, 
daß z.B. große Parks für die Stadt einen 
klimatischen und visuell auflockernden Effekt 
haben. Die Frage ist, ob man nicht durch 
mehrere kleine Einheiten einen größeren 
Nutzungseffekt mit weniger Mitteln erreichen 
kann. Denn: durch eine kleinräumliche 
Verstreuung von öffentlichen Einrichtungen 
und Freiräumen kann der klimatische und 
visuell auflockernde Effekt für den Stadtraum 
gesteigert werden. 
5. Zur Hierarchie von öffentlichen Räumen 
In der Fachdiskussion wird vielfach eine 
funtkionsorientierte Konzeption der Hierar- 
chie von öffentlichen Räumen verwendet 
(öffentlich, halböffentlich und Privaträume). 
Die gedachte funktionale Zuweisung be- 
stimmt noch nicht den Charakter eines 
Raums. Soziale Raumcharaktere werden nur 
selten allein durch Funktion bestimmt. So ist 
ein „Platz“ in dem Grad seiner Öffentlichkeit 
nicht gleich „Platz“. Der Grad der Öffent- 
lichkeit öffentlicher Plätze schwankt von Fall 
zu Fall. Die Verbindung von räumlicher 
Funktion und räumlich-baulicher Gestaltung 
erzeugt Signale für die Nutzer und bestimmt 
deren Erwartungshaltung gegenüber dem 
Raum. Die Nutzung bzw. der Erlebniswert des 
als öffentlich oder halböffentlich gedachten 
Raums stellt sich oft anders dar als die 
funktionale Zuweisung voraussetzt. 
a. 
Soziale Raumcharaktere werden in sehr diffe- 
renzierter Form wahrgenommen. Auf der 
einen Seite weisen auch öffentliche Räume 
Stufen der Öffentlichkeit auf: Der „Kurfür- 
stendamm“ ist „öffentlicher“, also für mehr 
Personen zugänglich oder bekannt und für 
alle Formen des Aufenthalts geeigneter als das 
„Kottbusser Tor“; dies ist wiederum „Ööffent- 
licher“ als das „Schlesische Tor“, das 
wiederum „öffentlicher“ ist als der „Heinrich- 
platz“ oder der „Oranienplatz“. Heinrichplatz 
und Oranienplatz sind zwar auch öffentliche 
Plätze, sie werden aber hauptsächlich als 
hausnahe Aufenthaltsmöglichkeit erlebt und 
genutzt. Zudem werden auch innerhalb aller 
öffentlichen Räume halböffentliche und halb- 
private „Nutzungsinseln“ vorgefunden.
	        
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