4. Tatsächliche Bewegungsräume und sozial-
räumliche Aktionssphären
Was sind die Grenzen des „unmittelbaren
Wohnumfeldes“? Davon ausgehend, daß eine
bedürfnisgerechte Planung Räume anstrebt,
die sich für regelmäßige Nutzung/ Aufenthalt
eignen, muß man vorab feststellen, welches die
tatsächlichen Bewegungs- und sozialräum-
lichen Aktionssphären sind bzw. was den
verfügbaren und annehmbaren Raum für den
Bewohner ausmacht. Das unmittelbare
Wohnumfeld ist wesentlich kleiner als viel-
fach bei der Planung vorausgesetzt wird.
Selten entfernen sich Menschen regelmäßig
weiter als 250 bis 350 m von ihren Wohn-
häusern. Dies sind die tatsächlichen „Bewe-
gungsräume“, die der Bewohner als sein
„Wohngebiet“ bezeichnet, dort hat er Über-
blick, dort kennt er die Leute vom Sehen, dort
geht er seine regelmäßigen Wege.
So ergeben die tatsächlichen „Bewegungs-
räume“ innerhalb des Wohnumfeldes ein Bild
von drei sozialräumlichen Aktionssphären.
Der „bewohnte hausnahe Bereich“ (20-50 m)
wird von fast allen Bewohnern für die regel-
mäßige Nutzung vorgezogen, wenn den
Wohnhäusern adäquate Aufenthaltsmöglich-
keiten zugeordnet sind. Dieser Bereich umfaßt
je nach architektonischer Gestaltung und
Beschaffenheit eine Zone vor und hinter dem
Haus, die mehrmals täglich und über längere
Zeiträume von den Bewohnern aufgesucht
wird. Der „bewohnte hausnahe Bereich“ ist
für viele Leute der Bereich, über den sie einen
sicheren „Überblick“ haben. Hier ist man „zu
Hause“, hier hat man „seinen Platz“. Für den
„bewohnten hausnahen Bereich“, den man mit
anderen teilt, fühlt man sich meist auch
verantwortlich. Hier wird informelle soziale
Kontrolle geübt als positiver Indikator für
Gefühle der Verantwortung und Zugehörig-
keit. Wenn im „hausnahen Bereich“ solche
Zugehörigkeitsgefühle nicht entstehen kön-
nen, wie z.B. in vielen Hochhaussiedlungen
mit öffentlichen Zonen bzw. Abstandsflächen,
die unmittelbar an die Häuser angrenzen,
entstehen Gefühle der Anonymität: Man kann
sich nicht dem öffentlichen, für „alle zu-
gänglichen“ Raum zugehörig fühlen und
entwickelt ihm gegenüber deshalb kein Ver-
antwortungsgefühl.
Die im Wohnumfeld zweitwichtigste Ak-
tionssphäre ist die „erlebte Nachbarschaft“,
der Bereich, den die meisten als ihr „Wohn-
gebiet“ wahrnehmen und erkennen. Hier
kennt man Leute vom Sehen, weiß, was
passiert und wer sich wo aufhält; hier fühlt
man sich der Nachbarschaft zugehörig. Was
außerhalb dieses kleinen Kreises (20-150 m)
passiert, bleibt den meisten Bewohnern un-
bekannt. Für viele ist die andere Straße oder
die andere Blockseite so etwas wie „eine
andere Siedlung“ oder „feindliches Ausland“.
Innerhalb der „erlebten Nachbarschaft“ sucht
man Orte täglich oder mehrmals in der Woche
für relativ kurze Zeiträume auf. In dem
„nachbarschaftlichen Wohnquartier“, der
dritten Aktionssphäre, werden verschiedene
Orte je nach den Standorten der übergeord-
neten Dienstleistungen (U-Bahn, Supermarkt,
Parks usw.) punktuell und unregelmäßig
einmal in der Woche oder im Monat, je nach
Bedarf, oder auch am Wochenende aufge-
sucht.
Die Gestaltung und Ausstattung dieser drei
Aktionssphären sind ausschlaggebend für die
erfolgreiche Nutzung des unmittelbaren
Wohnumfelds. Dabei ist zu beachten, daß die
tatsächlichen Bewegungsräume und Aktions-
sphären Aufschluß darüber geben, welche
Räume die Bewohner eigentlich regelmäßig
erschließen. Es stellt sich deutlich heraus, daß
Angebote der Planung außerhalb der Grenzen
dieser Räume von den Bewohnern oft nicht
beachtet und nur selten angenommen werden.
Legende: $
) Transferaktivitäten
| | Pfiegeaktivitäten
| N ) Aktive Telinahme
e
7)
Sozialinteraktion
| zwischen verschiedenen
Aufenthaltsorten
6.Transfer-
aktivitäten im
Sozialraum
7. Sozialraum
8. Sozialräum-
liche Aktions-
sphären-
”Bewegungs-
räume”
9.10. Zuord
nung vor
— Wohnorten
8. und Aufent-
REICHWEITE : CA. 20m zwer Siedlun:
3Min m a | A ChweiTE CA 20 100m“ gen unter-
| schiedlicher
[A WACHBARSCHAFTLICHE WO HNQUARTIER]
nn REICHWEITE ı CA. 1350 -350m Bautypen
—
d—
+
MARIANNENPLATZ
@ Aufenthaltsort
1 Wohnert
SONNENALUEE
So wird Block 100 am Mariannenplatz in
Berlin-Kreuzberg von den Planern als eine
Einheit betrachtet, von den Bewohnern
werden dagegen zwei „Siedlungen“ wahrge-
nommen. Die Spielplätze innerhalb des
Blocks sind jedoch so angelegt, daß die
Kleinkinder-Spielplätze in der einen Block-
hälfte, die für ältere Kinder in der anderen
Blockhälfte liegen. Da die Bewohner sich
jedoch selten aus der einen Blockhälfte in die
andere Blockhälfte bewegen, führt dies dazu,
daß jeweils alle Kinder einer Blockhälfte den
Spielplatz nutzen, den sie für sich räumlich als
zugeordnet empfinden. Dies führt zu unnöti-
gen Konflikten, besonders weil die Spielgeräte
nicht so nutzungsoffen gestaltet worden sind,
daß sie von allen Altersgruppen benutzt
werden können. Ähnliches gilt z.B. für
Abenteuerspielplätze, die überregional ge-
plant sind, sowie ähnliche Einrichtungen (z.B.
Jugendfreizeitheime). Solche Einrichtungen
werden zum großen Teil durch eine bestimm-
te Gruppe oder „Clique“ beherrscht. Diese
Gruppe ist oft kleiner als sie dem Einzugs-
bereich entspräche. So werden oft Einrich-
tungen unterbelegt. In ähnlicher Weise wird
die Mehrzahl von öffentlichen Parks und
Spielplätzen nur innerhalb der „erlebten
Nachbarschaft“ oder höchstens innerhalb der
„nachbarschaftlichen Wohnquartiere“ regel-
mäßig von Bewohnern benutzt und aufge-
sucht. Große Investitionen in größeren
überregionalen Einheiten bedeuten nicht
selten geminderte Nutzung trotz der Tatsache,
daß z.B. große Parks für die Stadt einen
klimatischen und visuell auflockernden Effekt
haben. Die Frage ist, ob man nicht durch
mehrere kleine Einheiten einen größeren
Nutzungseffekt mit weniger Mitteln erreichen
kann. Denn: durch eine kleinräumliche
Verstreuung von öffentlichen Einrichtungen
und Freiräumen kann der klimatische und
visuell auflockernde Effekt für den Stadtraum
gesteigert werden.
5. Zur Hierarchie von öffentlichen Räumen
In der Fachdiskussion wird vielfach eine
funtkionsorientierte Konzeption der Hierar-
chie von öffentlichen Räumen verwendet
(öffentlich, halböffentlich und Privaträume).
Die gedachte funktionale Zuweisung be-
stimmt noch nicht den Charakter eines
Raums. Soziale Raumcharaktere werden nur
selten allein durch Funktion bestimmt. So ist
ein „Platz“ in dem Grad seiner Öffentlichkeit
nicht gleich „Platz“. Der Grad der Öffent-
lichkeit öffentlicher Plätze schwankt von Fall
zu Fall. Die Verbindung von räumlicher
Funktion und räumlich-baulicher Gestaltung
erzeugt Signale für die Nutzer und bestimmt
deren Erwartungshaltung gegenüber dem
Raum. Die Nutzung bzw. der Erlebniswert des
als öffentlich oder halböffentlich gedachten
Raums stellt sich oft anders dar als die
funktionale Zuweisung voraussetzt.
a.
Soziale Raumcharaktere werden in sehr diffe-
renzierter Form wahrgenommen. Auf der
einen Seite weisen auch öffentliche Räume
Stufen der Öffentlichkeit auf: Der „Kurfür-
stendamm“ ist „öffentlicher“, also für mehr
Personen zugänglich oder bekannt und für
alle Formen des Aufenthalts geeigneter als das
„Kottbusser Tor“; dies ist wiederum „Ööffent-
licher“ als das „Schlesische Tor“, das
wiederum „öffentlicher“ ist als der „Heinrich-
platz“ oder der „Oranienplatz“. Heinrichplatz
und Oranienplatz sind zwar auch öffentliche
Plätze, sie werden aber hauptsächlich als
hausnahe Aufenthaltsmöglichkeit erlebt und
genutzt. Zudem werden auch innerhalb aller
öffentlichen Räume halböffentliche und halb-
private „Nutzungsinseln“ vorgefunden.