Zur Diskussion pP
aufstellt. Er unternimmt mehr: er versucht,
ihren Vorstellungen, Notwendigkeiten und
Möglichkeiten mit seinem Entwurf so weit er
eben kann, zu entsprechen. Dies kann ihm nur
gelingen, wenn er die Tätigkeiten der Schau-
spieler ausgezeichnet, das heißt intensiv und
komplex, zu verstehen gelernt hat. Daher
entwirft er ihnen eine Szenerie.
Wir könnten entwickelte Architektur aus
dem Zusammenhang von ‚Abläufen des
Lebens verstehen: Architektur ist eine Art
Mitspieler unter Spielern; eine Art Mit-
darsteller unter Darstellern: sie bildet Räume
und Requisiten für Menschen. In Räumen
und Requisiten drückt sie - sogar ohne die
Anwesenheit von Menschen - aus, welche
menschlichen Tätigkeiten sich mit ihrer Hilfe
abspielen können.
Die imaginative Kraft der Architektur
Menschliche Architektur-Szenerie vor einem Nachkriegs-Mussolini-Monument. vorn: das "weiße Dorf” in Rotterdam-Spangen
Sozialer Wohnungsbau, 1910 von J.J.P.J. Oud. dahinter: das technische Rathaus der Amerikaner Skidmore, Owens &Merril.
Roland Günter
Vom Hausbau zum Stadtbau:
Versorgungsarchitektur oder Demokratische Architektur?
TEIL I: ARCHITEKTUR-THEORIE
2) Erfahrungspotentiale, die sich historisch
verändern. Darauf haben vor allem Nor-
bert Elias und noch mehr Peter R. Gleich-
mann hingewiesen, die die Historizität der
Gefühle untersuchten.?
Ansprüche sind abhängig von Bewußtsein und
Theorie
Welche Ansprüche unterschiedliche Personen
an Haus und Stadt stellen, hängt von ihrem
Bewußtsein ab. Man wird sich mit wenigem
zufrieden geben, wenn man nicht viel weiß
(oder will) - und anschließend daran leiden;
oder das Leiden verdrängen; oder sich dafür
eine Rechtfertigungs-Ideologie verschaffen.
Dies gilt nicht nur für Bewohner, sondern
auch für Planer - mit dem Unterschied (der sie
mit den kapitalinvestierenden Bauträgern
verbindet), daß sie meist nicht persönlich
leiden müssen. Sie können sich mehr oder
minder elegant distanzieren. Sie verstehen es
ausgezeichnet, Rechtfertigungsideologien zu
entwickeln, da die von der Werbung beein-
flußte Sprache in diesen Konsum-Zeiten
jedweden gutklingenden Schwindel trägt.
Wenn wir die Einsichtsfähigkeit in die
Realität als Theorie! bezeichnen, dann sind
die Ansprüche an Häuser abhängig von der
jeweiligen Theorie, die die Personen besitzen -
ob übernommen oder selbst gebildet.
Architektur als Bühne
Man stelle sich folgende Schlüssel-Szene vor:
zwei Schauspieler haben sich zur Aufgabe
gemacht, Beziehungen zueinander darzustel-
len, die sie im Alltagsleben beobachten: der
eine steht auf der Straße vor einem Fenster.
der andere dahinter.
Sie. entwickeln zunächst in ihren Köpfen
Vorstellungen und beginnen dann, sie aus-
zudrücken. Die Vorstellung führt zur Dar-
stellung: das Gehirn lenkt die Ebenen ihres
Ausdruckes: die Mimik, die Gestik und die
räumlichen Bewegungen. Sie benötigen keine
aufgesetzten Formen, sondern entwickeln ihre
Formen aus ihrer Vorstellung: dadurch
werden sie stimmig - auch in ihrer Komplexi-
tät.
Niemand von uns käme auf den Gedanken,
die Erscheinungsweisen bzw. Handlungen der
Schauspieler als seine Formen, als Formen um
der Formen willen, zu lesen. Jeder Zuschauer
liest sie als Ausdruck des Lebens. Wenn man
sich mit diesem Sachverhalt analysierend und
gestaltend beschäftigt, dann geschieht dies
sinnvollerweise als Wissenschaft vom Leben
und nicht als Wissenschaft von formalen
Erscheinungen.
Man stelle sich nun weiterhin vor: die
beiden Schauspieler rufen einen Bühnenbild-
ner, das heißt: einen Spezialisten, der ihnen die
Requisiten und die Bühne für ihre Handlun-
gen herrichtet. Er tut dies nicht in der arm-
seligsten Weise, indem er ihnen lediglich einen
Kasten als Zimmer und ein Loch als Fenster
Notwendig: eine Wissenschaft vom Menschen
An dieser Stelle möchte ich eine Theorie
entwickeln, die auf eine fundamentale, ele-
mentare, durchgreifende (d.h. radikale) Weise
versucht, einen humanen Hausbau aus einer
Architektur-Anschauung abzuleiten, die Wis-
senschaft vom Menschen ist.
Ausgangspunkt ist die Untersuchung der
Natur des Menschen. Zu unterscheiden sind
1) Erfahrungspotentiale, die möglicherweise
feststehend geprägt sind. Mit ihnen be-
schäftigt sich die Anthropologie.
Meist sehen wir Architektur ohne Menschen:
weil die Leute nicht immer auf dem Balkon
stehen, wenn wir vorbeikommen; weil sie nur
gelegentlich ans Fenster treten. Auf der Bühne
der Architektur machen die Menschen als
Darsteller oft Pause; sie sind weggegangen,
halten sich auf Bühnen auf, wo wir ihnen im
Augenblick nicht zusehen können.
Aber eine gute Bühne gibt uns stets die
Assoziation von dem, was hier gerade
geschehen sein könnte und was vielleicht
gleich, in naher Zukunft, sich ereignet. Sehen
wir einen Balkon, dann stellen wir uns vor,
daß dort oben jemand sitzt, Kaffee trinkt oder
Zeitung liest. Wir versetzen uns oft selbst in
diese Situation.
Das heißt: die gut gestaltete Bühne besitzt
eine imaginative Kraft. Genauer: sie gestaltet
die menschlichen Handlungen mit, macht sie
vorstellbar - auch ohne daß sie sich hier und
jetzt unmittelbar und konkret in ihr ab-
spielen.
Das erkenntnistheoretische Problem beruht
darin, daß in dem einen auch das andere
existiert: in der Bühne die Menschen und
umgekehrt (wohl auch) in den Menschen die
Bühne. Daß das Abwesende in gewisser Weise
‚Anwesend ist. Dieses Problem wird ignoriert
von einer positivistischen Architektur-Theo-
rie, die zwischen den Spielern und der mit-
spielenden Bühne Grenzen wie ein Kataster-
amt zieht. Die Baugeschichte ist ihr weit-
gehend zum Opfer gefallen: wenn sie von
Architektur spricht, ohne Menschen einzu-
beziehen.
ns
X
S
>
Minimales Bauen: Versorgungsarchitektur
Architektur schafft unterschiedliche Räume
für Menschen. Der simpelste, beschränkteste
Raum ist der Stehplatz. Wie sehr man sich hier
als passives Wesen erfährt, wird bewußt, wenn
man von hier aus eine Bühne im Theater oder
im Film erlebt. Auf dem Stehplatz kann man
Schaubares nur im Kopf imaginieren, aber
nicht den eigenen Körper mit allen Sinnen
entfalten. Ganz ähnlich: der Sitzplatz.?
Ähnlich unkomplex wie der Stehplatz ist
der Gehweg, der lediglich den Bewegungs-
raum zwischen zwei Punkten schafft (Flure,
Bürgersteige usw.). Wieviel komplexer ist
dagegen ein Waldweg! (Es sei denn, man
benimmt sich im Wald nach einem mitge-
brachten eingeschränkten Verhaltensmuster).
Eine weitere Weise, in der Menschen durch
eine Architektur auf eine wenig entfaltungsfä-
hige Anwesenheit reduziert werden, ist gerade-
zu zum Symbol geworden: die Zelle - seı es ım
Gefängnis, sei es als kleines Kinderzimmer
einer in die Luft gehängten Wohnung im
Hochhaus, sei es als Büro oder als Lager-
raum. Am Charakter der Zelle ist das Prinzip
der Beraubung menschlicher Entfaltungsmög-
5