Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Zur Diskussion pP 
aufstellt. Er unternimmt mehr: er versucht, 
ihren Vorstellungen, Notwendigkeiten und 
Möglichkeiten mit seinem Entwurf so weit er 
eben kann, zu entsprechen. Dies kann ihm nur 
gelingen, wenn er die Tätigkeiten der Schau- 
spieler ausgezeichnet, das heißt intensiv und 
komplex, zu verstehen gelernt hat. Daher 
entwirft er ihnen eine Szenerie. 
Wir könnten entwickelte Architektur aus 
dem Zusammenhang von ‚Abläufen des 
Lebens verstehen: Architektur ist eine Art 
Mitspieler unter Spielern; eine Art Mit- 
darsteller unter Darstellern: sie bildet Räume 
und Requisiten für Menschen. In Räumen 
und Requisiten drückt sie - sogar ohne die 
Anwesenheit von Menschen - aus, welche 
menschlichen Tätigkeiten sich mit ihrer Hilfe 
abspielen können. 
Die imaginative Kraft der Architektur 
Menschliche Architektur-Szenerie vor einem Nachkriegs-Mussolini-Monument. vorn: das "weiße Dorf” in Rotterdam-Spangen 
Sozialer Wohnungsbau, 1910 von J.J.P.J. Oud. dahinter: das technische Rathaus der Amerikaner Skidmore, Owens &Merril. 
Roland Günter 
Vom Hausbau zum Stadtbau: 
Versorgungsarchitektur oder Demokratische Architektur? 
TEIL I: ARCHITEKTUR-THEORIE 
2) Erfahrungspotentiale, die sich historisch 
verändern. Darauf haben vor allem Nor- 
bert Elias und noch mehr Peter R. Gleich- 
mann hingewiesen, die die Historizität der 
Gefühle untersuchten.? 
Ansprüche sind abhängig von Bewußtsein und 
Theorie 
Welche Ansprüche unterschiedliche Personen 
an Haus und Stadt stellen, hängt von ihrem 
Bewußtsein ab. Man wird sich mit wenigem 
zufrieden geben, wenn man nicht viel weiß 
(oder will) - und anschließend daran leiden; 
oder das Leiden verdrängen; oder sich dafür 
eine Rechtfertigungs-Ideologie verschaffen. 
Dies gilt nicht nur für Bewohner, sondern 
auch für Planer - mit dem Unterschied (der sie 
mit den kapitalinvestierenden Bauträgern 
verbindet), daß sie meist nicht persönlich 
leiden müssen. Sie können sich mehr oder 
minder elegant distanzieren. Sie verstehen es 
ausgezeichnet, Rechtfertigungsideologien zu 
entwickeln, da die von der Werbung beein- 
flußte Sprache in diesen Konsum-Zeiten 
jedweden gutklingenden Schwindel trägt. 
Wenn wir die Einsichtsfähigkeit in die 
Realität als Theorie! bezeichnen, dann sind 
die Ansprüche an Häuser abhängig von der 
jeweiligen Theorie, die die Personen besitzen - 
ob übernommen oder selbst gebildet. 
Architektur als Bühne 
Man stelle sich folgende Schlüssel-Szene vor: 
zwei Schauspieler haben sich zur Aufgabe 
gemacht, Beziehungen zueinander darzustel- 
len, die sie im Alltagsleben beobachten: der 
eine steht auf der Straße vor einem Fenster. 
der andere dahinter. 
Sie. entwickeln zunächst in ihren Köpfen 
Vorstellungen und beginnen dann, sie aus- 
zudrücken. Die Vorstellung führt zur Dar- 
stellung: das Gehirn lenkt die Ebenen ihres 
Ausdruckes: die Mimik, die Gestik und die 
räumlichen Bewegungen. Sie benötigen keine 
aufgesetzten Formen, sondern entwickeln ihre 
Formen aus ihrer Vorstellung: dadurch 
werden sie stimmig - auch in ihrer Komplexi- 
tät. 
Niemand von uns käme auf den Gedanken, 
die Erscheinungsweisen bzw. Handlungen der 
Schauspieler als seine Formen, als Formen um 
der Formen willen, zu lesen. Jeder Zuschauer 
liest sie als Ausdruck des Lebens. Wenn man 
sich mit diesem Sachverhalt analysierend und 
gestaltend beschäftigt, dann geschieht dies 
sinnvollerweise als Wissenschaft vom Leben 
und nicht als Wissenschaft von formalen 
Erscheinungen. 
Man stelle sich nun weiterhin vor: die 
beiden Schauspieler rufen einen Bühnenbild- 
ner, das heißt: einen Spezialisten, der ihnen die 
Requisiten und die Bühne für ihre Handlun- 
gen herrichtet. Er tut dies nicht in der arm- 
seligsten Weise, indem er ihnen lediglich einen 
Kasten als Zimmer und ein Loch als Fenster 
Notwendig: eine Wissenschaft vom Menschen 
An dieser Stelle möchte ich eine Theorie 
entwickeln, die auf eine fundamentale, ele- 
mentare, durchgreifende (d.h. radikale) Weise 
versucht, einen humanen Hausbau aus einer 
Architektur-Anschauung abzuleiten, die Wis- 
senschaft vom Menschen ist. 
Ausgangspunkt ist die Untersuchung der 
Natur des Menschen. Zu unterscheiden sind 
1) Erfahrungspotentiale, die möglicherweise 
feststehend geprägt sind. Mit ihnen be- 
schäftigt sich die Anthropologie. 
Meist sehen wir Architektur ohne Menschen: 
weil die Leute nicht immer auf dem Balkon 
stehen, wenn wir vorbeikommen; weil sie nur 
gelegentlich ans Fenster treten. Auf der Bühne 
der Architektur machen die Menschen als 
Darsteller oft Pause; sie sind weggegangen, 
halten sich auf Bühnen auf, wo wir ihnen im 
Augenblick nicht zusehen können. 
Aber eine gute Bühne gibt uns stets die 
Assoziation von dem, was hier gerade 
geschehen sein könnte und was vielleicht 
gleich, in naher Zukunft, sich ereignet. Sehen 
wir einen Balkon, dann stellen wir uns vor, 
daß dort oben jemand sitzt, Kaffee trinkt oder 
Zeitung liest. Wir versetzen uns oft selbst in 
diese Situation. 
Das heißt: die gut gestaltete Bühne besitzt 
eine imaginative Kraft. Genauer: sie gestaltet 
die menschlichen Handlungen mit, macht sie 
vorstellbar - auch ohne daß sie sich hier und 
jetzt unmittelbar und konkret in ihr ab- 
spielen. 
Das erkenntnistheoretische Problem beruht 
darin, daß in dem einen auch das andere 
existiert: in der Bühne die Menschen und 
umgekehrt (wohl auch) in den Menschen die 
Bühne. Daß das Abwesende in gewisser Weise 
‚Anwesend ist. Dieses Problem wird ignoriert 
von einer positivistischen Architektur-Theo- 
rie, die zwischen den Spielern und der mit- 
spielenden Bühne Grenzen wie ein Kataster- 
amt zieht. Die Baugeschichte ist ihr weit- 
gehend zum Opfer gefallen: wenn sie von 
Architektur spricht, ohne Menschen einzu- 
beziehen. 
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Minimales Bauen: Versorgungsarchitektur 
Architektur schafft unterschiedliche Räume 
für Menschen. Der simpelste, beschränkteste 
Raum ist der Stehplatz. Wie sehr man sich hier 
als passives Wesen erfährt, wird bewußt, wenn 
man von hier aus eine Bühne im Theater oder 
im Film erlebt. Auf dem Stehplatz kann man 
Schaubares nur im Kopf imaginieren, aber 
nicht den eigenen Körper mit allen Sinnen 
entfalten. Ganz ähnlich: der Sitzplatz.? 
Ähnlich unkomplex wie der Stehplatz ist 
der Gehweg, der lediglich den Bewegungs- 
raum zwischen zwei Punkten schafft (Flure, 
Bürgersteige usw.). Wieviel komplexer ist 
dagegen ein Waldweg! (Es sei denn, man 
benimmt sich im Wald nach einem mitge- 
brachten eingeschränkten Verhaltensmuster). 
Eine weitere Weise, in der Menschen durch 
eine Architektur auf eine wenig entfaltungsfä- 
hige Anwesenheit reduziert werden, ist gerade- 
zu zum Symbol geworden: die Zelle - seı es ım 
Gefängnis, sei es als kleines Kinderzimmer 
einer in die Luft gehängten Wohnung im 
Hochhaus, sei es als Büro oder als Lager- 
raum. Am Charakter der Zelle ist das Prinzip 
der Beraubung menschlicher Entfaltungsmög- 
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