Bunker der Maginot-Linie.
Solche Bunker sind die ”Augen” eines ver-
winkelten, unterirdischen, städtischen
Systems. Die Armee wird unter die Erde
verlegt. Der Krieg soll für die Bevölkerung
aus dem Blickfeld verschwinden. Die Denk-
mäler der Maginot-Linie sind
Verdrängungs-Kunstwerke. In inkonse-
quenter Weise zeugen sie davon, daß die
Kriegsteilnehmer-Generation von 1916
beschlossen hat, den Krieg abzuschaffen.
Die Formel heißt: ”Nie wieder ersten
Weltkrieg”. Das hilft zu Beginn des
Zweiten Weltkriegs wenig.
Maginot, Feldwebel bei Verdun, dort
schwer verwundet, 1916 Parlamentarier,
der den Angriff anführt, der zur Absetzung
des französischen Oberbefehlshabers Joffre
führt, war als späterer Kriegsminister für
die Errichtung der ”Französischen Mauer”
verantwortlich. Sie ist nach ihm benannt.
tion, die konzernartige Massenproduk-
tion, auf militärischem Gebiet zu erfinden,
weil die zivilen Verhältnisse dafür zu träge
sind, machte aus allem, was seinem Befehl
unterliegt, bloßes Material. Bloßes Ma-
terial aber kämpft gar nicht. Das ist die
Pointe des Buches Vom Kriege von Clau-
sewitz. Auf eine grausige Weise wiederho-
len sich die primitiven Anwendungen
dieses Grundprojektes im Giftgaskrieg von
1916 und in den sog. Materialschlachten
des Zweiten Weltkriegs. Die gleiche Denk-
form liegt der offensiven Raketenrüstung
heute zugrunde, besonders deutlich in der
Vorstellung der „engen Packung“ der MX.
Es ist schwer zu fassen, daß Materialisie-
rungen dieser Denkform einerseits derart
viele Menschen umbringen können, also
aus Tatsachen bestehen, zugleich aber et-
was strikt Unwirkliches sind. Das ist kein
theoretisches Problem, sondern ein Pro-
blem der sinnlichen Übersetzung.
Die wichtigste sinnliche Übersetzung ge-
schieht durch Bauten. Nur sie bilden Groß-
Zeichen, moderne Panoramen, lassen sich
dinglich anfassen. Das wäre bei Filmen
oder gar Buchstaben schwierig. Zur
Kriegsarchitektur zählt dabei auch das
Aussehen der Waffen, die Symbolik ihrer
Standorte und (wie der unsichtbare Gott
unbestechlicher und mächtiger erscheint
als jeder sichtbare) die neuartige Tendenz
zur Ungegenständlichkeit der Abschrek-
kung, Kriegsdrohung und Rüstung. Es zei-
gen sich zwei Knotenpunkte:
(1) Gravitation.
Dasjenige, für das Vorarbeit bereits gelei-
stet wurde, das einfach zu addieren ist,
dasjenige wofür der Wiederholungszwang
Zuarbeit leistet, hat die größere Überre-
dungs- und Durchsetzungskraft als das
noch zu Formulierende. Es geht von allen
Anwendungen der falschen Denkform
(„Massierung von bloßen Objekten“) eine
Gravitation aus. Anders gesagt: nur die Ge-
genproduktion hätte gegen solche Produk-
tion Gegenmacht. Auf dem Gebiet deı
Kriegsarchitektur aber gibt es ja keine
differenzierende Gegenproduktion. Für
das politische Vorstellungsvermögen deı
erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung
heißt es heute wie 1939, wie 1914, wie 1802:
warnende Worte gegen umbauten Raum.
Schon Kassandra ist gegenüber dem
Mauerwerk Trojas ohnmächtig. Obwohl
doch Kassandra recht behält, die Sicher-
heit der Mauern aber trügt!
(2) Subjektiv: Die Lähmung,
In der Bauweise der Gefühle gilt ein Ge-
setz, das es in den äußeren Architekturen
nicht gibt: ein Gebäude bleibt stehen bis es
verfällt oder niedergerissen wird. Vom Ge-
fühl im Inneren der Menschen aufrechter-
haltene Gebäude bleiben dagegen auch
dann stehen, wenn sie niedergerissen wur-
den oder längst verfallen sind. Alle Roh-
stoffe dieser inneren Bauten sind zeitlos.
Sie können sogar breite Teile der Zukunft
vorwegverstehen (bzw. verbauen). Eine
vom Zukunftshorizont ausgehende Ver-
zweiflung wird deshalb schon jetzt das Ge-
fühl lähmen, das benötigt wird, um ein
Schicksal noch zu wenden. Das ist die sub-
jektive Seite des Kassandra-Komplexes:
die Psyche ist klüger als die ‚Gegenwart,
vermag in der Zukunft zu lesen. Trifft aber
dieser Blick in die Zukunft auf etwas Un-
erträgliches, so sperren die Wünsche, und
der Blick wird starr. Dies ist die Erklärung
dafür, daß verzweifelte Nationen keine
Auswege finden.
Für mich haben Verteidigungsbauten in-
sofern etwas Tröstendes, als sie unreali-
stisch geworden sind. Von den Ruinen geht
keine Überredungskraft aus. An dieser
Stelle hört die Trost-Wirkung schon auf,
weil ich ja weiß, daß zur Zeit zahlreiche
Architekten ihre Kräfte an Raketensilos er-
proben, die gewiß auch neben ihrer
Funktion einen Ausdruck haben. Sie wer-
den vielleicht schon, auch ohne Zutun eines
Gegners, nach wenigen Jahren Ruinen
sein - und daran ist überhaupt nichts
beruhigendes.
Die Architektonik der Vernunft dagegen
hat bisher fast keine Bauten hinterlassen.
In der Einleitung zur Transzendentalen
Methodenlehre benutzt Immanuel Kant,
(Kritik der reinen Vernunft, in: Werksaus-
gabe (Wilhelm Weischedel), Band IV/1I, S.
609) ausschließlich Bilder über Haus- und
Großbau, um seine Methode, in der es um
den gesellschaftlichen Abbau von Krieg
geht, näher zu erläutern. Er spricht von
Materialprüfung, dem Turmbau zu Babel,
der bis an den Himmel reichen sollte, aber
die Sprachverwirrung bewirkt, vom Bau
von „Wohnhäusern auf der Ebene der Er-
fahrung“ zu sprechen. Er sagt: Die Men-
schen werden nicht aufs Wohnen ver-
zichten, sie werden immer daran sein,
etwas zu bauen („indem wir ... von der
Errichtung eines festen Wohnsitzes nicht
wohl abstehen können ...“). Wenn es um
das Wichtigste geht: Sicherheit für das, was
wir unmittelbar lieben, intensiviert sich
diese Bautätigkeit. Insofern ist die subjek-
tive Seite der Menschen, ihre Gefühle, eine
ungeheure Sortierung von Verteidigungs-
anlagen; darin Augen, ähnlich eng umris-
sen, „verkorkt“, wie die Bunkerschlitze der
Maginot-Linie.