Emil Steffann
Gisberth Hülsmann
WAHR-NEHMUNG
Anmerkungen zu Emil Steffanns
„Baufibel für Lothringen”
D ie Besinnung auf die bauliche Tradition
1 des Ortes ist heute eine so deutliche
Übung im Architekturgeschehen, daß dafür
das Etikett „Regionalismus” geprägt werden
mußte. Ein glückliches Geschick — oder der
bemühte Versuch zur Unterscheidung (?) —
hat die neue Vertretung einer alten Sache bis
jetzt davor bewahrt, als „Heimatstil” vermes-
sen zu werden, eine Klasse, die zu lange unter
NS-Flagge segelte, um schon wieder akzepta-
bel zu sein. Wie weit neben oder gar über
jenem Heimatstil die Bauten des heutigen
Regionalismus endgültig plaziert werden,
darf man glücklicherweise künftiger Bauge-
schichte überlassen. Aber es ist gewiß nahe-
liegend, über das halbe Jahrhundert hin tat-
sächlich Verbindungslinien aufzuspüren.
Der Gedanke allerdings, daß Emil Stef-
fann mit und wegen der „Baufibel für
Lothringen”, die, 1943 im Entwurf fertigge-
stellt, nicht mehr gedruckt wurde, Zeuge sol-
chen „Heimatstils” — damaliger oder heuti-
ger couleur — sein könne, ist nur vordergrün-
dig und also falsch. Solche notwendige
Unterscheidung ist nicht als Negativkontrast
gemeint, sondern vielmehr als Hilfe zum Ver-
ständnis. Schließlich entstand Steffanns
„Baufibel” vor dem weltanschaulichen Hin-
tergrund des Heimatstils und im Rahmen der
in den anderen bekannten Baufibeln ausfor-
mulierten Bemühungen um die bauliche Tra-
dition deutscher Landschaften. Wir dürfen in
einem besten Sinne wohl unterstellen, daß
der damalige Auftraggeber die beschrei-
bende Würdigung des gewachsenen — anony-
men — Formenkanons des Landes Lothrin-
gen und eine Belehrung der Bauschaffenden
vor Ort im Auge hatte, als Emil Steffann mit
der Ausarbeitung dieser Baufibel beauftragt
wurde. Sicher aber ist, daß er gleichzeitig den
weniger ehrenwerten Nachweis erwartete,
wie „deutsch” Lothringen in seiner baulichen
Tradition sei und schließlich werden könne.
Bekannt gewordene biographische Details,
aber mehr noch die unbefangene Durchsicht
des Materials der „Baufibel” machen deut-
lich, daß Emil Steffann beides nicht gelingen
konnte.
Einerseits: Ob seine Ausarbeitung eine
„Deutschtum— Prüfung” in Berlin überhaupt
bestanden hätte, darf trotz einzelner Retu-
schen bezweifelt werden. Andererseits:
Alles, was Steffann an Material für die Baufi-
bel zusammentrug, geriet ihm nicht zu
„lobenswert sorgfältiger” oder „beglückend
sensibler” Notation historischer, regionaler
Bauformen, sondern es spiegelt sich eine für
ihn damals ganz gegenwärtige, existentielle.
das grundsätzliche der Bauformen — schließ-
lich allen Bauens — aufdeckende EINSICHT
in Architektur.” Wir sehen, wie ein Archi-
tekt Zeugnis gibt von seiner Ergriffenheit
durch Architektur — richtiger: durch Bauen.
Kaum einen Blick richtet Steffann auf
irgendwelche Stilerscheinungen der
Geschichte und ästhetische Leistungen der
Region. Die selbstgefertigten Fotos und Skiz-
Dorf in Lothringen, Montage: Emil Steffann
zen und die wenigen deutenden Worte der
Baufibel treffen fast ausschließlich bauliche
Erscheinungen — Wirklichkeiten —, die vor
jedem Stil und jeder individuellen Ästhetik
liegen. Die Blätter von der Treppe und vom
Pfeiler ... sind solche grundsätzlichen, völlig
überregionalen Hinweise auf architektoni-
sche Wirklichkeiten, die ich an anderer Stelle
„erste Bilder der Architektur” genannt
habe.” In der anonymen, nicht stilgebunde-
nen Architektur Lothringens erkannte Emil
Steffann die elementaren Parameter, die
ursprünglichen Gestalten allen Bauens. Und
er wollte sie nicht nur im regionalen Bauen
der Landschaft wiedergewonnen sehen, son-
dern hielt diese für unbedingte Forderungen
auch an eine unterstellte Industrialisierung
des Bauens. Der Text der „Einleitung” macht
dieses deutlich: Daß Steffann keinen Gegen-
satz zwischen beheimatetem Handwerk und
ortloser Industrie befestigen wollte. Er ver-
weist vielmehr auf die unverzichtbaren
Gemeinsamkeiten allen Bauens für den Men-
schen.” Und es ist seine formulierte Überzeu-
gung, daß solche Gemeinsamkeit nur aus
einer inneren Verantwortung möglich werden
könne. „Diesem Vorgang (maschinelle Her-
stellung der Bauteile, Anmerk.) entspricht
eine Wandlung des Lebens, denn bauen ist
nichts anderes als ein sichtbares Nachvollzie-
hen von Entscheidungen, die im Leben fallen
... Eine Baufibel, welche diese Wandlung
nicht beachtet, setzt sich der Gefahr aus, als
ein etwas abseitiges Büchlein musealer Lieb-
haberei gewertet zu werden...” (Einleitung
zur Baufibel)
Steffanns Motivation für diese Baufibel
war also offensichtlich nicht baugeschichtlich
oder national; sie richtete sich auf die ethi-
sche Herausforderung des Bauenden. Daß
dieses für ihn vor jeder ästhetischen oder stili-
stischen Frage stand, zeigt Steffanns Suche
nach Wahrheit und Wirklichkeit im Bauen,
nach dem beständigen Wahrsein der Dinge.
Der Baumeister wird konstruktive Wahrheit
und Bestand des Bauwerks — das offene
Thema der Fibel — nicht zuletzt deswegen als
ethische Forderung unterstellen.
Wenn andeutungsweise bedacht wird, wel-
chen Umgang Emil Steffann mit der Welt im
Sehen, Sinnen und Tun (in dieser Reihen-
folge!) hatte, würde der Versuch, Leben und
Werk in philosophischen Kategorien zu