Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Emil Steffann 
Gisberth Hülsmann 
WAHR-NEHMUNG 
Anmerkungen zu Emil Steffanns 
„Baufibel für Lothringen” 
D ie Besinnung auf die bauliche Tradition 
1 des Ortes ist heute eine so deutliche 
Übung im Architekturgeschehen, daß dafür 
das Etikett „Regionalismus” geprägt werden 
mußte. Ein glückliches Geschick — oder der 
bemühte Versuch zur Unterscheidung (?) — 
hat die neue Vertretung einer alten Sache bis 
jetzt davor bewahrt, als „Heimatstil” vermes- 
sen zu werden, eine Klasse, die zu lange unter 
NS-Flagge segelte, um schon wieder akzepta- 
bel zu sein. Wie weit neben oder gar über 
jenem Heimatstil die Bauten des heutigen 
Regionalismus endgültig plaziert werden, 
darf man glücklicherweise künftiger Bauge- 
schichte überlassen. Aber es ist gewiß nahe- 
liegend, über das halbe Jahrhundert hin tat- 
sächlich Verbindungslinien aufzuspüren. 
Der Gedanke allerdings, daß Emil Stef- 
fann mit und wegen der „Baufibel für 
Lothringen”, die, 1943 im Entwurf fertigge- 
stellt, nicht mehr gedruckt wurde, Zeuge sol- 
chen „Heimatstils” — damaliger oder heuti- 
ger couleur — sein könne, ist nur vordergrün- 
dig und also falsch. Solche notwendige 
Unterscheidung ist nicht als Negativkontrast 
gemeint, sondern vielmehr als Hilfe zum Ver- 
ständnis. Schließlich entstand Steffanns 
„Baufibel” vor dem weltanschaulichen Hin- 
tergrund des Heimatstils und im Rahmen der 
in den anderen bekannten Baufibeln ausfor- 
mulierten Bemühungen um die bauliche Tra- 
dition deutscher Landschaften. Wir dürfen in 
einem besten Sinne wohl unterstellen, daß 
der damalige Auftraggeber die beschrei- 
bende Würdigung des gewachsenen — anony- 
men — Formenkanons des Landes Lothrin- 
gen und eine Belehrung der Bauschaffenden 
vor Ort im Auge hatte, als Emil Steffann mit 
der Ausarbeitung dieser Baufibel beauftragt 
wurde. Sicher aber ist, daß er gleichzeitig den 
weniger ehrenwerten Nachweis erwartete, 
wie „deutsch” Lothringen in seiner baulichen 
Tradition sei und schließlich werden könne. 
Bekannt gewordene biographische Details, 
aber mehr noch die unbefangene Durchsicht 
des Materials der „Baufibel” machen deut- 
lich, daß Emil Steffann beides nicht gelingen 
konnte. 
Einerseits: Ob seine Ausarbeitung eine 
„Deutschtum— Prüfung” in Berlin überhaupt 
bestanden hätte, darf trotz einzelner Retu- 
schen bezweifelt werden. Andererseits: 
Alles, was Steffann an Material für die Baufi- 
bel zusammentrug, geriet ihm nicht zu 
„lobenswert sorgfältiger” oder „beglückend 
sensibler” Notation historischer, regionaler 
Bauformen, sondern es spiegelt sich eine für 
ihn damals ganz gegenwärtige, existentielle. 
das grundsätzliche der Bauformen — schließ- 
lich allen Bauens — aufdeckende EINSICHT 
in Architektur.” Wir sehen, wie ein Archi- 
tekt Zeugnis gibt von seiner Ergriffenheit 
durch Architektur — richtiger: durch Bauen. 
Kaum einen Blick richtet Steffann auf 
irgendwelche Stilerscheinungen der 
Geschichte und ästhetische Leistungen der 
Region. Die selbstgefertigten Fotos und Skiz- 
Dorf in Lothringen, Montage: Emil Steffann 
zen und die wenigen deutenden Worte der 
Baufibel treffen fast ausschließlich bauliche 
Erscheinungen — Wirklichkeiten —, die vor 
jedem Stil und jeder individuellen Ästhetik 
liegen. Die Blätter von der Treppe und vom 
Pfeiler ... sind solche grundsätzlichen, völlig 
überregionalen Hinweise auf architektoni- 
sche Wirklichkeiten, die ich an anderer Stelle 
„erste Bilder der Architektur” genannt 
habe.” In der anonymen, nicht stilgebunde- 
nen Architektur Lothringens erkannte Emil 
Steffann die elementaren Parameter, die 
ursprünglichen Gestalten allen Bauens. Und 
er wollte sie nicht nur im regionalen Bauen 
der Landschaft wiedergewonnen sehen, son- 
dern hielt diese für unbedingte Forderungen 
auch an eine unterstellte Industrialisierung 
des Bauens. Der Text der „Einleitung” macht 
dieses deutlich: Daß Steffann keinen Gegen- 
satz zwischen beheimatetem Handwerk und 
ortloser Industrie befestigen wollte. Er ver- 
weist vielmehr auf die unverzichtbaren 
Gemeinsamkeiten allen Bauens für den Men- 
schen.” Und es ist seine formulierte Überzeu- 
gung, daß solche Gemeinsamkeit nur aus 
einer inneren Verantwortung möglich werden 
könne. „Diesem Vorgang (maschinelle Her- 
stellung der Bauteile, Anmerk.) entspricht 
eine Wandlung des Lebens, denn bauen ist 
nichts anderes als ein sichtbares Nachvollzie- 
hen von Entscheidungen, die im Leben fallen 
... Eine Baufibel, welche diese Wandlung 
nicht beachtet, setzt sich der Gefahr aus, als 
ein etwas abseitiges Büchlein musealer Lieb- 
haberei gewertet zu werden...” (Einleitung 
zur Baufibel) 
Steffanns Motivation für diese Baufibel 
war also offensichtlich nicht baugeschichtlich 
oder national; sie richtete sich auf die ethi- 
sche Herausforderung des Bauenden. Daß 
dieses für ihn vor jeder ästhetischen oder stili- 
stischen Frage stand, zeigt Steffanns Suche 
nach Wahrheit und Wirklichkeit im Bauen, 
nach dem beständigen Wahrsein der Dinge. 
Der Baumeister wird konstruktive Wahrheit 
und Bestand des Bauwerks — das offene 
Thema der Fibel — nicht zuletzt deswegen als 
ethische Forderung unterstellen. 
Wenn andeutungsweise bedacht wird, wel- 
chen Umgang Emil Steffann mit der Welt im 
Sehen, Sinnen und Tun (in dieser Reihen- 
folge!) hatte, würde der Versuch, Leben und 
Werk in philosophischen Kategorien zu
	        
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