Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

werden. Es gehört immer neue jahrelange 
Aufmerksamkeit dazu, dieses in den eigenen 
Vorstellungen wie im gewohnten Gebauten 
liegende Besondere, Regionale als solches, 
durch die Kongruenz von beidem hindurch, 
wahrzunehmen, genau so, wie es diese Zeit 
zur Erkenntnis der eigenen Charakterzüge 
braucht. Die im Traditionsbestand an Gebau- 
tem wie in den eigenen Vorstellungen 
mitgesagte unbewußte Form des Hauses wird 
überhaupt erst plastisch, wo man die eigenen 
Sehnsüchte, Kindheitserfahrungen, unbe- 
wußt zugrundeliegende Formwünsche an sich 
heranläßt, an den erlernten, erarbeiteten 
Kriterienkatalog, an den stolz beherrschten 
Formalismus, an diese unglückliche aufge- 
klärte ästhetische Intelligenz, die sich entlang 
gen hindurch, immer stärker durch seinen 
Landschaftsbezug beunruhigt worden; immer 
wieder bricht, durch technokratische Miß- 
verständnisse und eine maßlose stadtplane- 
rische Unfähigkeit hindurch, das diluviani- 
sche Fließen aus, baut Stadttäler, Abbruch- 
kanten und zurückbleibende Findlinge auf. 
Bis in die Bauten hinein bilden sich aus Schutt 
und Mißglücktem immer ‘wieder unter den 
Maschinen der Abreißer und Neuklotzer 
punktuelle Kristallisationen und lineare 
Entwicklungen aus, auf die keiner gefaßt war, 
am wenigsten die technokratischen Verur- 
sacher, die das Gegenteil bezweckten, ganz 
unabhängig davon, was dieses Gegenteil 
jeweils war, reinliches Zubauen oder blind- 
wütiges Leerräumen. 
Haus Rüschenhaus bei Münster von Johann Conrad Schlaun. 1745 - 4 
der Erfahrung des NS durch ihre Unver- 
mischtheit mit allen regionalen Bindungen 
auszeichnet. Man muß sich erneut verwickeln 
lassen mit dem Heimatproblem, der Politik 
der Wünsche für die eigene Straßenecke, den 
Baum vor der Tür, in das Ernstnehmen der 
eigenen kindlichen Wünsche nach Blumen, 
Schnittlauch und Erde zwischen den Bundes- 
straßen, Ampeln und Hochhäusern. 
Da muß jeder von seinem Ort reden. Mein 
Ort ist die Großstadt in der norddeutschen 
Tiefebene, zugleich eine historisch so tief 
geprägte Stadt - Berlin -, daß Regionales da 
nur als Pointe des historischen Prozesses, in 
der Linie der funktionalen Architektur, 
ausdenkbar ist. Mehr Ferne, mehr Verallge- 
meinerung ist vermutlich nicht zusammen- 
zubringen an einem Punkt. Gerade da fängt 
für mich das Wünschen an. 
Das Wünschen richtet sich auf Wieder- 
erkennbarkeit der eigenen Situation im 
Gebauten. Lange Zeit habe ich geglaubt, es 
handele sich dabei um eine ausschließlich 
historische Situation. Wie zu erwarten, 
entdecke ich, je älter ich werde, die 
geographischen Komponenten dieser Situa- 
tion und damit das komplizierte Ineinander 
von Landschaft und Geschichte. Berlin ist, 
gerade seit es Millionenstadt wurde und 
durch die Kriegs- und Nachkriegszerstörun- 
Die Auseinandersetzung mit der Bautradi- 
tion des Ortes führt, gerade weil so ungeheure 
historische Distanzen da hineinbrachen, zu 
Heimat- und Umlandbeziehungen: Berlin 
und die Mark Brandenburg. Auch hier gibt es 
keinen Rückgriff auf genuine regionale 
Bautypen, sondern ein jeweiliges lokales 
Anwesendsein eines zutiefst durch Verstaat- 
lichung geprägten Bauprozesses. Die fernste 
zu erreichende Voraussetzung ist, daß im 
Dreißigjährigen Krieg die Mark die Hälfte 
ihrer Bewohner verlor, und daß dieser Verlust 
nicht nur durch Zuwanderung von Hollän- 
dern, Nord- und Südfranzosen, Böhmen, 
Rheinländern und Bayern beantwortet wur- 
de, sondern auch durch eine langwierige 
staatliche Reorganisation der gesamten im 
Krieg zusammengebrochenen Bautradition. 
Das, was entstand, ist von großer Konsistenz 
gewesen, die Berliner Bauschule des 19. 
Jahrhunderts war bloß ein Teil davon. Die 
Formierungsetappen dieser Breitentradition 
sind ohne den Erfahrungshorizont der Mark 
nicht zu denken, auch wenn sie jeweils in 
Einzelleistungen zu großer Architektur wur- 
den (diese Etappen im wesentlichen sind das 
Werk Gerlachs, Knobelsdorffs und Schin- 
kels). Die preußische Staatsarchitektur war 
deshalb so lange imstande, Loyalität zu 
binden, weil das Märkische in ihr als Regio- 
naltradition aufgehoben war. Erst der Wilhel- 
minismus (stellvertretend dafür die Ersetzung 
des Boumann’schen durch den Raschdorf- 
schen Dom) zerschlug diese Tradition. Im 
selben historischen Augenblick begann, die 
aufgegebene Stelle neu besetzend, die Ge- 
schichte des neuen Bauens, der absoluten 
(fälschlich „funktionalen“) Architektur. 
Diese Tradition hängt auch am Berliner 
Stadtgebiet, steht darin teils gar noch 
aufrecht, in Form von alten Seitenflügeln, 
Straßenbildern oder des Knobelsdorffbaus in 
Charlottenburg. Radikaler als je muß sich das 
Bauen heute in Berlin wieder auf Landschaft- 
lichkeit, auf Vorhandenes beziehen, so wie es 
hineinzugehen hat in die Sekundärebene 
historischer Zerstörung. Der Formalismus ist 
tot: der der zwanziger Jahre als historisch 
gewordenes Schlußkapitel sowieso, der neue, 
konservative wurde gleich tot geboren; das 
Regionale als Wunschform des Ortes will 
weiter gebaut werden. 
Wie? Das läßt sich nicht als Ideal entwickeln, 
nicht aus vorausentwickelten Typologien 
ableiten. Es wird für dieses regionale 
Wiedererkennungsmoment auch in Zukunft 
keine typologischen Baukästen und keine 
modularen Verfahrensregelungen geben. Was 
möglich ist, zeigt sich sowohl in geglückten 
Ansätzen wie - wenn sichtbar daran vorbei 
gebaut wird - in Verdrängungen. Ein 
Schulbeispiel dafür sind die seit zwei Jahren 
laufenden Planungen zum „Zentralen Be- 
reich“, der zerrissenen Stadtmitte zwischen 
City West und City Ost, bestehend aus Mauer 
und ehemaligen Stadtvierteln in ihrem 
Schatten, aus den leeren Bahnhofsflächen im 
Süden und Norden, dem Tiergarten. Da sieht 
man schon recht deutlich die möglichen 
Alternativen. Für die einen wird das Gelände 
zu einem nur noch durch Bedeutungen, durch 
gewesene, nicht mehr sichtbare Geschichte 
geprägten Erinnerungsfeld. Für die anderen 
wiederholt sich zwanghaft 19. Jahrhundert, 
die preußisch staatliche Angst vor Raum, vor 
freier Bewegung; es wird auf die Flachland- 
situation und den Sand reagiert, aber nur so, 
daß man ihn schleunigst mit Erinnerungs- 
geometrie zudeckt. Auch die Problem- 
stellung, welche Baukörper man in diese 
Wüste aus Mauer und Scharounschen 
Solitären hineinbauen kann, sieht noch am 
Zusammenhang vorbei. Das Regionale 
kommt erst da in Sicht, wo Bauten und 
Landschaft Spiegelverhältnisse eingehen. 
Das muß viel freier, viel beweglicher, viel 
ruppiger sein, als alle geometrischen Raum- 
ordnungen anbieten können. 
Man muß da endlich auch die Lektion der 
Geschichte ernst nehmen. Was immer in 
dieser Stadt an geschlossener Ordnung 
versucht wurde, erwies sich als im Bewußt- 
sein der Stadt nicht verankert und wurde zum 
frühest möglichen Zeitpunkt gesprengt. Die 
Sprengungen des Krieges wird man außen vor 
lassen müssen, aber die Sanierungsspren- 
gungen sind nichts anderes als die zielstre- 
bige Destruktion ungeliebter, deshalb unbe- 
griffener Ordnungen. Im Augenblick ist nur 
das Resultat sichtbar, städtebauliche Dumm- 
heit und Chaotik. Man kann den Zerstö- 
rungsbetrieb aber auch als ungewollte Frei- 
legung einer in keine staatliche Ordnung 
einbindbaren Grundcharakters der Stadt- 
landschaft verstehen. Wenn man diese 
Räume beidseits der Mauer heute sieht, dann 
sind sie die denkbar größten, regionalen 
Herausforderungen. Da will auf Stadtkan- 
ten, Fließräume, auf ungeheure Zumutungen 
an Weite und weitgreifenden Zusammenhang 
reagiert werden. Dazu braucht es Bauten, die 
eben diese Weite, dieses Fließen, dieses 
unruhige nimmersatte Dehnen ebenso in sich 
haben wie die lineare, im Kleinen genaue, 
Grenzen, Trennlinien herstellende Überlie, 
ferung.
	        

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