werden. Es gehört immer neue jahrelange
Aufmerksamkeit dazu, dieses in den eigenen
Vorstellungen wie im gewohnten Gebauten
liegende Besondere, Regionale als solches,
durch die Kongruenz von beidem hindurch,
wahrzunehmen, genau so, wie es diese Zeit
zur Erkenntnis der eigenen Charakterzüge
braucht. Die im Traditionsbestand an Gebau-
tem wie in den eigenen Vorstellungen
mitgesagte unbewußte Form des Hauses wird
überhaupt erst plastisch, wo man die eigenen
Sehnsüchte, Kindheitserfahrungen, unbe-
wußt zugrundeliegende Formwünsche an sich
heranläßt, an den erlernten, erarbeiteten
Kriterienkatalog, an den stolz beherrschten
Formalismus, an diese unglückliche aufge-
klärte ästhetische Intelligenz, die sich entlang
gen hindurch, immer stärker durch seinen
Landschaftsbezug beunruhigt worden; immer
wieder bricht, durch technokratische Miß-
verständnisse und eine maßlose stadtplane-
rische Unfähigkeit hindurch, das diluviani-
sche Fließen aus, baut Stadttäler, Abbruch-
kanten und zurückbleibende Findlinge auf.
Bis in die Bauten hinein bilden sich aus Schutt
und Mißglücktem immer ‘wieder unter den
Maschinen der Abreißer und Neuklotzer
punktuelle Kristallisationen und lineare
Entwicklungen aus, auf die keiner gefaßt war,
am wenigsten die technokratischen Verur-
sacher, die das Gegenteil bezweckten, ganz
unabhängig davon, was dieses Gegenteil
jeweils war, reinliches Zubauen oder blind-
wütiges Leerräumen.
Haus Rüschenhaus bei Münster von Johann Conrad Schlaun. 1745 - 4
der Erfahrung des NS durch ihre Unver-
mischtheit mit allen regionalen Bindungen
auszeichnet. Man muß sich erneut verwickeln
lassen mit dem Heimatproblem, der Politik
der Wünsche für die eigene Straßenecke, den
Baum vor der Tür, in das Ernstnehmen der
eigenen kindlichen Wünsche nach Blumen,
Schnittlauch und Erde zwischen den Bundes-
straßen, Ampeln und Hochhäusern.
Da muß jeder von seinem Ort reden. Mein
Ort ist die Großstadt in der norddeutschen
Tiefebene, zugleich eine historisch so tief
geprägte Stadt - Berlin -, daß Regionales da
nur als Pointe des historischen Prozesses, in
der Linie der funktionalen Architektur,
ausdenkbar ist. Mehr Ferne, mehr Verallge-
meinerung ist vermutlich nicht zusammen-
zubringen an einem Punkt. Gerade da fängt
für mich das Wünschen an.
Das Wünschen richtet sich auf Wieder-
erkennbarkeit der eigenen Situation im
Gebauten. Lange Zeit habe ich geglaubt, es
handele sich dabei um eine ausschließlich
historische Situation. Wie zu erwarten,
entdecke ich, je älter ich werde, die
geographischen Komponenten dieser Situa-
tion und damit das komplizierte Ineinander
von Landschaft und Geschichte. Berlin ist,
gerade seit es Millionenstadt wurde und
durch die Kriegs- und Nachkriegszerstörun-
Die Auseinandersetzung mit der Bautradi-
tion des Ortes führt, gerade weil so ungeheure
historische Distanzen da hineinbrachen, zu
Heimat- und Umlandbeziehungen: Berlin
und die Mark Brandenburg. Auch hier gibt es
keinen Rückgriff auf genuine regionale
Bautypen, sondern ein jeweiliges lokales
Anwesendsein eines zutiefst durch Verstaat-
lichung geprägten Bauprozesses. Die fernste
zu erreichende Voraussetzung ist, daß im
Dreißigjährigen Krieg die Mark die Hälfte
ihrer Bewohner verlor, und daß dieser Verlust
nicht nur durch Zuwanderung von Hollän-
dern, Nord- und Südfranzosen, Böhmen,
Rheinländern und Bayern beantwortet wur-
de, sondern auch durch eine langwierige
staatliche Reorganisation der gesamten im
Krieg zusammengebrochenen Bautradition.
Das, was entstand, ist von großer Konsistenz
gewesen, die Berliner Bauschule des 19.
Jahrhunderts war bloß ein Teil davon. Die
Formierungsetappen dieser Breitentradition
sind ohne den Erfahrungshorizont der Mark
nicht zu denken, auch wenn sie jeweils in
Einzelleistungen zu großer Architektur wur-
den (diese Etappen im wesentlichen sind das
Werk Gerlachs, Knobelsdorffs und Schin-
kels). Die preußische Staatsarchitektur war
deshalb so lange imstande, Loyalität zu
binden, weil das Märkische in ihr als Regio-
naltradition aufgehoben war. Erst der Wilhel-
minismus (stellvertretend dafür die Ersetzung
des Boumann’schen durch den Raschdorf-
schen Dom) zerschlug diese Tradition. Im
selben historischen Augenblick begann, die
aufgegebene Stelle neu besetzend, die Ge-
schichte des neuen Bauens, der absoluten
(fälschlich „funktionalen“) Architektur.
Diese Tradition hängt auch am Berliner
Stadtgebiet, steht darin teils gar noch
aufrecht, in Form von alten Seitenflügeln,
Straßenbildern oder des Knobelsdorffbaus in
Charlottenburg. Radikaler als je muß sich das
Bauen heute in Berlin wieder auf Landschaft-
lichkeit, auf Vorhandenes beziehen, so wie es
hineinzugehen hat in die Sekundärebene
historischer Zerstörung. Der Formalismus ist
tot: der der zwanziger Jahre als historisch
gewordenes Schlußkapitel sowieso, der neue,
konservative wurde gleich tot geboren; das
Regionale als Wunschform des Ortes will
weiter gebaut werden.
Wie? Das läßt sich nicht als Ideal entwickeln,
nicht aus vorausentwickelten Typologien
ableiten. Es wird für dieses regionale
Wiedererkennungsmoment auch in Zukunft
keine typologischen Baukästen und keine
modularen Verfahrensregelungen geben. Was
möglich ist, zeigt sich sowohl in geglückten
Ansätzen wie - wenn sichtbar daran vorbei
gebaut wird - in Verdrängungen. Ein
Schulbeispiel dafür sind die seit zwei Jahren
laufenden Planungen zum „Zentralen Be-
reich“, der zerrissenen Stadtmitte zwischen
City West und City Ost, bestehend aus Mauer
und ehemaligen Stadtvierteln in ihrem
Schatten, aus den leeren Bahnhofsflächen im
Süden und Norden, dem Tiergarten. Da sieht
man schon recht deutlich die möglichen
Alternativen. Für die einen wird das Gelände
zu einem nur noch durch Bedeutungen, durch
gewesene, nicht mehr sichtbare Geschichte
geprägten Erinnerungsfeld. Für die anderen
wiederholt sich zwanghaft 19. Jahrhundert,
die preußisch staatliche Angst vor Raum, vor
freier Bewegung; es wird auf die Flachland-
situation und den Sand reagiert, aber nur so,
daß man ihn schleunigst mit Erinnerungs-
geometrie zudeckt. Auch die Problem-
stellung, welche Baukörper man in diese
Wüste aus Mauer und Scharounschen
Solitären hineinbauen kann, sieht noch am
Zusammenhang vorbei. Das Regionale
kommt erst da in Sicht, wo Bauten und
Landschaft Spiegelverhältnisse eingehen.
Das muß viel freier, viel beweglicher, viel
ruppiger sein, als alle geometrischen Raum-
ordnungen anbieten können.
Man muß da endlich auch die Lektion der
Geschichte ernst nehmen. Was immer in
dieser Stadt an geschlossener Ordnung
versucht wurde, erwies sich als im Bewußt-
sein der Stadt nicht verankert und wurde zum
frühest möglichen Zeitpunkt gesprengt. Die
Sprengungen des Krieges wird man außen vor
lassen müssen, aber die Sanierungsspren-
gungen sind nichts anderes als die zielstre-
bige Destruktion ungeliebter, deshalb unbe-
griffener Ordnungen. Im Augenblick ist nur
das Resultat sichtbar, städtebauliche Dumm-
heit und Chaotik. Man kann den Zerstö-
rungsbetrieb aber auch als ungewollte Frei-
legung einer in keine staatliche Ordnung
einbindbaren Grundcharakters der Stadt-
landschaft verstehen. Wenn man diese
Räume beidseits der Mauer heute sieht, dann
sind sie die denkbar größten, regionalen
Herausforderungen. Da will auf Stadtkan-
ten, Fließräume, auf ungeheure Zumutungen
an Weite und weitgreifenden Zusammenhang
reagiert werden. Dazu braucht es Bauten, die
eben diese Weite, dieses Fließen, dieses
unruhige nimmersatte Dehnen ebenso in sich
haben wie die lineare, im Kleinen genaue,
Grenzen, Trennlinien herstellende Überlie,
ferung.