Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

scher und finanzieller Machbarkeit für archi- 
tektonische Umständlichkeiten plädiert, die 
die bloße Zweckmäßigkeit erst erträglich ge- 
stalteten. Eine nicht den kürzesten, sondern 
sozusagen den schönsten Weg einschlagende 
Erschließung, eine die Annäherung an das 
Wohnhaus gestaltende, statt bloß verein- 
fachende architektonische Organisation des 
Übergangs vom öffentlichen Straßenraum 
zum privaten Wohnraum, das durch Mauern 
abgeschirmte „Höfchen, das die Heimat um- 
schließt“?} - ins solchen Architekturmerkma- 
len, die dem rationellen und rationalen Neuen 
Bauen zwecklos oder unzweckmäßig erschei- 
nen mochten und die Schmitthenner eine 
zweckmäßige oder zweckfreie Veredelung des 
Wohnraumes darstellten und die dem von 
Zersetzungstendenzen bedrohten bürgerli- 
chen Familienleben und seiner Wohnkultur 
stabilisierende Geborgenheit versprachen, in 
solchen Merkmalen deuten sich möglicher- 
weise vernachlässigte Aspekte der funk- 
tionalistischen Architekturdoktrin an, auf de- 
ren Mängel die Stuttgarter Schule und die 
konservative Architekturkritik der Weimarer 
Republik hinwiesen, die vielleicht breiter 
empfunden und von den NS-Architektur- 
ideologen weidlich ausgeschlachtet werden 
konnte. 
Neben dem von der ’Wohnmaschine’ be- 
fürchteten Zwang zu einer - in der Regel als 
familienfeindlich - abgelehnten baulichen 
Zwangsorganisation der Lebensvorgänge in 
der privaten Wohnsphäre, den für Schmitt- 
henner der von Scharoun mit Nachdruck 
demonstrierte Bewegungsablauf in der Trep- 
penausbildung zum Ausdruck zu bringen 
schien, galt die Kritik vor allem einem mit der 
Anwendung neuer Materialien und Kon- 
struktionen und mit veränderten formalen 
Leitbildern einhergehenden Verlust der her- 
kömmlichen konstruktiven Anschaulichkeit 
der Wohnbauten. Das mit dem Andauern der 
Weltwirtschaftskrise an Überzeugungskraft 
gewinnende Plädoyer Schmitthenners für die 
Verwendung preiswerter, am Ort zur Ver- 
fügung stehender Baumaterialien gegen Be- 
ton, Stahl und Glas, seine mit industriekriti- 
schen, ja antimonopolistischen Wendungen 
durchsetzte leidenschaftliche Kritik am Ein- 
satz moderner Bautechnologien, denen er 
eine werkgerechte Verarbeitung lokaler Ma- 
terialien bei sparsamem Maschineneinsatz 
vorzog, entzündete sich an der unter Aus- 
nutzung der neuen bauindustriellen Mög- 
lichkeiten erzielten Gestaltwirkung des Neuen 
Bauens, das handwerklich geprägte Seh- 
gewohnheiten verblüffen mußte, angefangen 
von der sterilen Maschinenglätte der Ober- 
flächenbehandlung der Außenhaut bis zur 
kaum mehr gebundenen Bemessung und 
Verteilung der Wandöffnungen des Stahl- 
betons und der Eisenskelettkonstruktionen. 
„Wohnhäuser aus Stahlplatten und Glas zu 
bauen, um sie dann mit allem möglichen 
Aufwand gegen Schall, Wärme und Kälte zu 
isolieren“2, das war Schmitthenner der 
Endpunkt einer Akademisierung der Archi- 
tektur und des Architekten, deren Loslösung 
von der Baupraxis sie zu einem willfährigen 
Instrument in den Händen der zu Syndikaten 
vereinten Bauwirtschaft gemacht hätte. Daß 
die Not beten und bauen gelehrt habe und daß 
Baukunst von Menschengeist durchdrungene 
und von Menschenhand überformte Natur- 
notwendigkeit repräsentiere, war Schmitt- 
henners Architektur-Credo, das unkompli- 
zierte geschlossene Baukörperformen und wie 
unwillkürlich sich zu Walm- oder Sattel- 
dächern neigende Hauswände als Ausdruck 
einer gekonnten Analogie zu natürlichen 
Wachstumsprozessen verstand und sich bis in 
die unkaschierten Spuren der Materialbe- 
handlung auf die Bindung des Bauprozesses 
und seines Produkts an natürliche Werkstoff- 
eigenschaften und ablesbare Bearbeitungs- 
spuren berufen konnte. Die Flächenauftei- 
lung von Loch und Wand sowie deren Relief 
spiegelten demnach die durch Materialwahl 
und Konstruktion und Verarbeitung unter- 
scheidbaren Bedingungen und Möglichkeiten 
kaum industrialisierter Massiv- und Fach- 
werkbauweisen. 
Eine volkstümliche und populäre 
Architektursprache 
Die verlangte Rücksichtnahme auf das 
Vorrecht der älteren Natur und Baukultur 
sowie der Rückgriff auf bewährte Konstruk- 
tions- und Gestaltungsmöglichkeiten zog eine 
vertraute Formensprache nach sich, eine 
Gegenwartsarchitektur, die sich in die Umge- 
bung gleichermaßen unprätentiös einzurei- 
hen schien wie in die Überlieferung. 
Aus der Einsicht, „daß es volksnähere 
Quellen gäbe als Vitruv‘“2?5, hatte sich vor dem 
1. Weltkrieg bereits Theodor Fischer, der 
Begründer der Stuttgarter Bauschule - dem 
Bonatz, Schmitthenner und Wetzel ebenso 
wichtige Anregungen verdanken wie Taut, 
Oud oder Häring - für eine nachempfindende 
Erneuerung anonymer regionaler Architek- 
turtraditionen eingesetzt. Das hieraus ent- 
wickelte Modell volkstümlicher Bauformen 
und -traditionen, die sich gleichsam or- 
ganisch fortpflanzten und in jeder Bau- 
generation der vorhergehenden bzw. um- 
gebenden verbunden blieben, bot nicht nur 
dem von sozialen, wirtschaftlichen und tech- 
nischen Umwälzungen erschütterten Selbst- 
verständnis der Baukünstler eine architektur- 
ideologische Orientierung, sondern sicherte 
den Ergebnissen ihrer praktischen Bautätig- 
keit einen Interpretationsrahmen mit einer 
Vielzahl allgemein verständlicher, wenn nicht 
sogar beliebter Zugänge zur architektoni- 
schen Form. Schmitthenners Unterscheidung 
zwischen „täglicher Sprache“ und „Dichtung“ 
oder zwischen „Volkslied“ und „unsterblicher 
Symphonie“? entsprach seine Betonung eineı 
von menschlichen Maßstäben geprägten un- 
scheinbaren Architektur, in deren Umfeld die 
erhabene Monumentalbaukunst der Antike, 
des Mittelalters oder der faschistischen 
Gegenwart erst zum Tragen komme. 
Wie verbreitet und vermutlich populär die 
Auffassungen der Stuttgarter Schule nicht 
nur in bürgerlichen Kreisen gewesen sein 
dürften, erhellt sich schlaglichtartig in der 
Bautätigkeit der aus Kreisen der Gewerk- 
schaften, der SPD sowie der KPD initiierten 
Arbeiterbaugenossenschaften im Raum 
Stuttgart.?” Bruno Taut trifft im Auftrag der 
Architektenvereinigung ’Der Ring’ in seinem 
Rundumschlag gegen die traditionalistische 
Wohnhausarchitektur auch die Miethaus- 
anlage auf dem Botnanger Sattel in Stutt- 
gart?® und damit das Selbstverständnis des 
Bau- und Sparvereins Kornwestheim, der 
ältesten aus den Reihen der Sozialdemokra- 
tie hervorgegangenen Baugenossenschaft der 
Region, um deren stolzes Aushängeschild es 
sich hierbei handelte?*. Als gebaute Gegen- 
demonstration konnte schließlich auch lange 
vor der Kochenhofausstellung die Siedlung 
des Bau- und Heimstättenvereins Stuttgart 
gelten, dessen Putzbauten unter Walm- und 
Satteldächern vor allem von und für Gewerk- 
schafter ‚erbaut worden waren und die 
unterhalb der avantgardistischen Stadtkrone 
der Weißenhofsiedlung sozusagen als tradi- 
tionsbewußte Untertanensiedlung ein städte- 
bauliches und architektonisches Kontrast- 
programm abgaben.?° 
Auf der Suche nach ’gesunden’ Vorbildern 
für das Programm des nationalsozialistischen 
Siedlungswesens spielte aber die bereits vor 
dem 1. Weltkrieg von Mitgliedern des 
Deutschen Metallarbeiter-Verbandes und 
Daimler-Arbeitern gegründete Gartenstadt 
Luginsland auf der Höhe über dem Neckartal 
eine entscheidende Rolle. Das gängigen 
Heimstättenidealen verpflichtete Erschei- 
nungsbild der Wohnhäuser und Gärten sowie 
das geschlossene, ringsum von Grün umgebe- 
ne Siedlungsbild des Arbeiterstadtteils, der 
dem Weingärtner- und Industriedorf als 
Satellit ebenso zugeordnet scheint wie der 
Neckarvorort selbst der Kernstadt Stuttgart 
verkörperte idealtypische Züge der von den 
Nationalsozialisten propagierten Umsetzung 
von Arbeiterschichten in ländliche Ansied- 
lungen auf den Höhen außerhalb der Stadt - 
trotz der hervorragenden Bedeutung, die 
Luginsland für den antifaschistischen Wider- 
stand in Stuttgart zukam.?! 
Faschistoider Tendenzen aber gänzlich 
unverdächtige Stuttgart-Besucher äußerten 
angesichts der Weißenhofsiedlung Bedenken, 
die den Argumenten der konservativen 
Kritiker nicht unähnlich waren. „Hier durfte 
sich die Bauphantasie der besten Architekten 
Europas austoben“, berichtet Sergej Tret- 
jakow angesichts der „Kollektion von Häu- 
sern“ auf dem Weißenhof und witzelt über 
den „weißen Betonkasten Le Corbusiers“ mit 
den Stuttgartern: „wie kalt es die Bewohner 
dieses Pfahlbaus der Epoche der Elektrizität 
und des Aluminiums im Winter haben“. Und 
seine Bemerkung zum Taut-Haus kommt wie 
eine Vorwegnahme der Bonatz-Polemik 
einher: „Die Wände orange, blau, grau und 
braun als ob das kein Haus wäre, sondern ein 
Spielzeug für Riesenkinder“3. Für Ilja 
Ehrenburg aber verkörpern die weißen 
Würfel auf der Anhöhe „die ganze doppelte 
Krankenhaussauberkeit unseres syphiliti- 
schen und mißtrauischen Jahrhunderts ... 
Über der alten Stadt ... erheben sich die 
Baracken der Zukunft. Es erscheint sogar 
sonderbar, daß darin lebendige Menschen 
wohnen ... Wer weiß, ob dieser Gegensatz 
natürlich ist, wie es mit dem seelischen Drama 
all dieser Maximalisten der ’weißen’ und der 
°Dachziegel’-Stadt bestellt ist ...?“22 
Spätestens heute in ihrem eingewachsenen 
Zustand erscheint die Kochenhofsiedlung 
geradezu unaufdringlich attraktiv. Ute Peltz- 
Dreckmann hat der unscheinbaren Kochen- 
hofsiedlung noch ein vernichtendes antifa- 
schistisches Geschmacksurteil ausgestellt: sie 
sei im Vergleich zur Weißenhofsiedlung 
ausgesprochen „langweilig“, Sie ahnte ver- 
mutlich kaum, wie sehr sie mit diesem Urteil 
die Planungsabsichten der Stuttgarter Schule 
für eine Architektur der Selbstverständlich- 
keiten bestätigt hätte. Eine sozusagen auf- 
fällig unauffällige Normalität, fern aller 
innovatorischen Ansprüche, vertrug sich mit 
dem alltäglichen Faschismus des NS-Sied- 
lungsbaus ebenso wie offenkundig ideolo- 
gisch belastete Konzepte einer disziplinie- 
renden Ordnungsarchitektur oder rustikali- 
sierender Heimatschutzarchitektur. 
Auf dem Killesberg 1939: 
Natürliche Holzhäuser und propagan- 
distische Kriegspsychose 
Das eher mittelständische und kleinbürger- 
liche Programm der Holzsiedlung auf dem 
Kochenhof, das auch staatliche Zuschuß- 
gremien des NS-Regimes bereits als über- 
trieben aufwendig kritisiert hatten, ging 1939 
in der Reichsgartenschau auf dem Stuttgarter 
Killesberg schließlich eine Symbiose ein mit 
der von den Nationalsozialisten in der Praxis 
favorisierten Fortsetzung des bereits in der 
Weimarer Republik aufgenommenen Baus 
von Nebenerwerbs- und Stadtrandsiedlun- 
gen in Form des sogenannten „Stuttgarter 
Kleineigenheim nfit Landzulage“. 
Der durch Teilungssitten weitgestreute 
Grund- und Hausbesitz sowie das durch 
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