Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Zur Person: Robert Nöll von der Nahmer: 1899 gebo- 
ren, Verwaltungs- und Banktätigkeit, Habilitation 1934 in 
Breslau, 1935 ao Professor in Breslau, 1940 Ruf an Hoch- 
schule für Welthandel in Wien, 1946 - 1964 Lehrstuhl für 
Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Uni- 
versität Mainz; Mitglied des Parlamentarischen Rates und 
des 1. Bundestages für die FDP 
Von Krise zu Krise - Vorschläge ohne 
Publikum 
Der im Mai 1982 geschriebene und hier (erst- 
malig) veröffentlichte „Vorschlag“ des inzwi- 
schen 84jährigen läßt inhaltlich und kontex- 
tuell - in den Reaktionen, die er provoziert - 
die Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschafts- 
krise von 1929 wiedererstehen. Bis in den Stil 
haben wir es hier mit einem Arbeitsbeschaf- 
fungsprogramm wie zu Zeiten der größten 
aller Industriekrisen zu tun; Hauptelement: 
die produktive Kreditschöpfung. Eine theore- 
tische Begründung dafür hatte Nöll von der 
Nahmer 1934 in einer Aufsehen erregenden 
Schrift (seiner Habilitation) geliefert (vgl. 
Faksimile). Und obwohl die Idee der produk- 
tiven Kreditschöpfung zu den fundamentalen 
kollektiven Lernprozessen der 30er Jahre 
zählt, ist es heute so, als hätte es sie weder als 
wissenschaftliches Konzept noch als politische 
Option je gegeben. Schlimmer noch: Nöll von 
der Nahmer erlebt zum zweiten Mal in sei- 
nem Leben, was es heißt, außerhalb der Or- 
thodoxie zu denken. Die Reaktionen reichen 
von höflichem Ignorieren bis zu Kommenta- 
ren wie „altersschwach“ oder „spinnert“. 
Keine der politikbestimmten Institutionen 
und Medien, keiner der Personen des öffentli- 
chen Lebens, denen Nöll von der Nahmer 
seinen „Vorschlag“ unterbreitete, hat mehr als 
respektvoll abgewinkt. Weder die IG-Bau, 
noch die Ministerien Bau, Finanzen und Ar- 
beit und Soziales zur Zeit der sozial-liberalen 
Koalition, noch der damalige Oppositionsfüh- 
rer Kohl, auch keine der großen Zeitungen wie 
ZEIT, FAZ und Süddeutsche, die früher ger- 
ne die Beiträge Nölls nahmen, haben das ge- 
ringste Zeichen von Interesse gezeigt. 
Der Immobilismus der Orthodoxien 
Es geht Nöll von der Nahmer heute so, wie all 
jenen Außenseitern, die nach 1929 begonnen 
haben, Konzepte aktiver Konjunkturpolitik 
zu entwickeln und in die öffentliche Debatte 
zu bringen. Diese Innovatoren, später „Re- 
former“ genannt, wurden seitens der verschie- 
densten Orthodoxien, einerlei ob links oder 
rechts, schwersten persönlichen Angriffen 
ausgesetzt. Und immer war es vor allem die 
neue Form der Finanzierung, die produktive 
Kreditschöpfung, die die größte Empörung 
auslöste; sicherlich, die große Inflation war 
noch allen in Erinnerung; doch damit allein 
war die geradezu hysterische Abwehr des 
Neuen auch seitens der damals bekanntesten 
Wissenschaftler nicht zu erklären. In Groß- 
britannien warf beispielsweise die Labour 
Party, die kein _Arbeitsbeschaffungspro- 
gramm hatte, ausgerechnet der kleinen 
Liberal Party, die unter Lloyd George das 
erste moderne vorlegte (von Keynes unter- 
stützt: „Can Lloyd George do it?, 1929), in den 
Krisenwahlen den Hang zur „Diktatur“ vor; 
der bekannte sozialistische Ökonom G.D.H. 
Cole sprach von „madcap finance“ (vgl. 
Skidesky 1967, S. 67ff; für einen Überblick 
Novy 1982 b). In Deutschland blockierten 
Hilferding und Naphtali in grandios antikapi- 
talistischer Besserwisserei das gewerkschaftli- 
che krisenpolitische Sofortprogramm (der 
sog. WTB-Plan; vgl. hierzu Schneider 1975). 
Klaus Novy; Robert Nöll v.d. Nahmer 
Arbeitsbeschaffung im Bausektor 
Warum nicht produktive Kreditschöpfung? 
Als schließlich der wirtschaftliberale Prä- 
sident des statistischen Reichsamtes und Leit- 
ter des Instituts für Konjunkturforschung 
Prof. E. Wagemann in einem ohnehin eher 
späten Lernprozeß 1932, öffentlich der Lok- 
kerung der rigiden Gelddeckungsregeln das 
Wort redete, brach ein Sturm der Entrüstung, 
ja eine Hetze gegen eine solche „Agitation ei- 
nes hohen Beamten“ aus (vgl. Grotkopp S. 
188; Kroll S. 396ff). Vom sozialistischen ko. 
nom Landauer über den einflußreichen libera- 
len Gustav Stolper bis zu den Industrielobbys, 
eine unheilige Allianz der Deflationisten in 
Politik, Publizistik und Wissenschaft sorgte 
bis weit in das Jahr 1932 hinein für einen tota- 
len Immobilismus der großen Parteien. Nur 
die Nationalsozialisten als Partei reagierten 
auf den herrschenden wirtschaftspolitischen 
Irrsinn; mit einem keineswegs spezifisch na- 
tional-sozialistischen Arbeitsbeschaffungs- 
programm (dem sog. Straßer-Programm) er- 
reichten sie im Sommr 1932 ihren größten 
Wahlerfolg. 
ausschließlich krisenpolitisch bedingten pro- 
duktiven Kreditschöpfung nur geschadet. Als 
ob es zwischen Ablehnung und Mißbrauch 
keine Zwischenstufen gäbe. 
Doch das Trauern über die Unfähigkeit, aus 
Krisenerfahrungen zu lernen, ist so alt wie die 
Krisen selbst (vgl. das Vorwort in Max Wirths 
berühmter „Geschichte der Handelskrisen“, 2. 
Aufl. Ffm 1874). Doch das nicht wenigstens 
die Wissenschaft einen kumulativen Kenntnis- 
stand sichert, gleichsam als „kollektives Ge- 
dächtnis“ fungierend, macht betroffen. 
Das wichtigste Vergessen! 
Immerhin kann die notenbankgestützte pro- 
duktive Kreditschöpfung durch den Staat als 
die „selbstverständliche Schlußfolgerung aus 
den Lehren der Jahre 1930/33“ (Grotkopp S. 
168) angesehen werden.Auch haben fast alle 
Zeugen dieser Entwicklung, gerade dort, wo 
sie zunächst Kritiker waren, nachträglich den 
„Reformern“ Recht.gegeben (vgl. beispiels- 
weise Stolper 1948, S. 121). Und es liegen zwei 
hervorragende Analysen der Wirtschaftspoli- 
tik während der Weltwirtschaftskrise vor, 
beide in der praktischen Absicht geschrieben, 
Lehren für die Zukunft zu ziehen (Grotkopp 
1954; und Kroll 1958). Die meines Erachtens 
wichtigste Arbeit zur Weltwirtschaftskrise, die 
Krolls, ein Denkmal für die Fruchtbarkeit 
historisch fundierter Wirtschaftstheoriebil- 
dung, bietet zudem explizit die Brücke zur 
heutigen Krisenproblematik einer Gesell- 
schaft, der die Arbeit auszugehen droht. 1958 
zeichnet er das „Gespenst einer kommenden 
Krise“ am Ende der durch die Elektronik be- 
wirkten Rationalisierungswelle“ (722/723). 
„Diesmal (wird) man sich mit dem Gedanken 
vertraut machen müssen“ - schreibt Kroll 
1958“ - daß es kaum möglich sein wird, die 
Menschen jemals wieder in die Industrie zu- 
rückzuführen, da in einer automatisierten In- 
dustrie selbst bei einer Zunahme der privaten 
Investitionen, die Voraussetzungen fehlen 
werden, um größere Arbeitermassen für die 
Dauer zu beschäftigen“. „Im übrigen dürfte 
auch eine Halbierung der Arbeitszeit in der 
Industrie auf lange Sicht nicht hinreichen, um 
den Millionen brotlos werdender Arbeitskräf- 
te Beschäftigung zu geben“ (S. 724/725). 
Faszinierend ist auch, daß sich Kroll durch 
seine historische Strukturanalyse freihält vom 
modischen keynesianischen Bewältigungsop- 
timismus der 50er und 60er Jahre. Nur für die 
„geringfügigen Zwischenkrisen“ sei das key- 
nesche Instrumentarium wirksam, für die 
kommende große Krise im Gefolge der Ra- 
tionalisierung gäbe Keynes keine Antwort. 
Doch sind die weitsichtigen Analysen 
Krolls, auch seine gerade angesichts aktueller 
postindustrieller Visionen wichtiges utopi- 
Die Stunde der Außenseiter 
Nun - zu spät - begann das Umdenken in Poli- 
tik und Wissenschaft; unter Papen und Schlei- 
cher begann man mit die Grundelemente einer 
krisenpolitischen Soforthilfe durch Formen 
der produktiven Kreditschöpfung umzuset- 
zen: Arbeitsbeschaffungswechsel, Steuergut- 
scheine usw. Die „Verhältnisse“ begannen die 
„Reformer“ Lautenbach, Wagemann, Dräger, 
Friedländer-Prechtl, Nöll von der Nahmer zu 
rehabilitieren. Das Unglück bestand dann 
darin, daß die Nationalsozialisten dieses vor- 
bestellte Feld ernten konnten. 
Das Trauma des kollektiven krisenpoliti- 
schen Lernprozesse dieser Jahre zu ver- 
drängen. Verschärft wird dieser Hang zu Ver- 
drängung - wissenssoziologisch gesehen - 
durch eine spezifische Dialektik des „ortho- 
doxen Denkens“: abgesehen von dem schon 
beschriebenen Phänomen, daß orthodoxes 
Denken dort, wo es zugleich hegemonial wie 
realitätsfremd wird, innovatives Denken zu- 
nächst intern blockiert und ins Außensei- 
terisch-Sektierische abdrängt, kann man in 
einer zweiten Phase oft ein verblüffend totales 
Umkippen ins Gegenteil feststellen. Die ver- 
unsicherte Orthodoxie wird Voluntarismus. 
So wurden zahlreiche vormalige scharfe Kriti- 
ker kreditpolitischer Experimente zu ihren un- 
kritischsten Befürwortern in der Zeit nach 
1933, am berühmtesten wohl der zweimalige 
Reichsbankpräsident H. Schacht. Beides 
aber - die vormalig totale Ablehnung wie die 
spätere unvorsichtige Verabsolutierung - hat 
der - bei den Reformern (beispielsweise Nöll 
von der Nahmers) sorgfältig begründeten und 
selbstkritisch eingeschränkten - Sache einer 
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