Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

sches Essay (1957), gänzlich vergessen. Zwar 
wurden kürzlich zahlreiche Texte der „Refor- 
mer“ dokumentiert - so auch ein Auszug aus 
Nöll von der Nahmers Hauptwerk (Bombach 
u.g. 1982, S. 116ff) - doch ob dies auf mehr als 
museal-akademisches Interesse stößt, bleibt 
abzuwarten. Der Gesamttitel der auf 5 Bände 
angelegten verdienstvollen Editionsarbeit ist 
jedenfalls eher geeignet „dogmenhistorische“ 
Interessen, denn wirtschaftspolitisch-prakti- 
sche zu wecken. Außerdem ist gerade das, was 
über Keynes hinaus geht, das was uns heute in- 
teressieren müßte. In diesem Sinne verstellt 
der Titel „Keynesianismus“ eher den Zugang 
zur reichen deutschen krisenpolitischen De- 
batte. So paradox es klingt: 1982 erscheinen 
also sowohl ein alter wie auch ein neuer Text 
Nöll von der Nahmers, beide im gleichen 
Geiste. Doch der alte wird „dogmenhisto- 
risch“ gewürdigt, der neue schlichtweg igno- 
riert. Merkwürdig, sollte die produktive Kre- 
ditschöpfung nur in der Retroperspektive in- 
teressant, nicht aber prospektiv von Interesse 
sein? Wäre das ein Lernen aus begangenen 
Fehlern (Bombach 1981, S. IX); oder ist dies 
nicht vielmehr die altvertraute ängstliche Bor- 
niertheit der neuen, in einer 30jährigen Schön- 
wetterperiode geschuldeten Orthodoxie? 
Wird das Umdenken wieder zu lange dauern? 
Einige Anmerkungen zum Vorschlag 
Nöll von der Nahmers 
Das Entscheidende zum Verständnis von Ar- 
beitsbeschaffungsplänen, wie sie hier Nöll von 
der Nahmer vorlegt, ist die Bereitschaft, sich 
auf den „neuen“ Problemzusammenhang ein- 
zulassen. Es geht nicht mehr wie in den letzten 
Jahrzehnten um mehr oder weniger Wachs- 
tum, um die Frage der Qualität des 
Wachstums, um optimale Allokation der 
volkswirtschaftlichen Ressourcen, es geht 
überhaupt nicht um langfristige strategische 
Weichenstellungen, „Sozialismus oder Libe- 
ralismus“, wie Nöll anmerkt. Es handelt sich 
hier um krisenpolitische Sofortmaßnahmen, 
die ausschließlich eines wollen: die Brechung 
der nach unten gerichteten Deflations- bzw. 
Depressionsspirale. Nicht optimale Kapital- 
leitung, sondern Mobilisierung der brachlie- 
genden‘ Ressourcen ist das bescheidene Ziel. 
Kaum jemand ist wirklich bereit, sich die 
durch staatliche Sparpolitik kumulativ ver- 
stärkte Abwärtsbewegung in ihren möglichen 
Auswirkungen vorzustellen. Dabei ist Detroit 
nicht weit; und was wäre hier so anders, als 
daß wir uns sicher fühlen könnten, daß uns 
dieses Schicksal nicht ereilt. Jedenfalls wird 
der krisenpolitische Problemdruck mit der lei- 
der immer vorhandenen Verzögerung ein Um- 
denken auch hier erzwingen. Man kann nur 
hoffen, daß sich die Einsicht in den Primat der 
Soforthilfe diesmal schneller politiknah ver- 
breitet als vor 50 Jahren. 
Ist Arbeitsbeschaffung sinnvoll? Bedarf? 
Nun wird aus ökologischer Sicht eingewandt, 
die Krise sei ganz neuen Typs. Selbst wenn Sti- 
mulierung möglich wäre, aus Gründen der Si- 
cherung der natürlichen und psycho-sozialen 
Umwelt sei ein erneutes Wachstum - und dies 
würde hier bedeuten: die Wiederbeschäfti- 
gung der 170.000 arbeitslosen Bauarbeiter - 
nicht wünschenswert. Darauf wäre auf zwei 
Ebenen zu antworten: 
a) eine „anschlußfähige Strategie“ (Berger) 
einer ökologischen Alternative wird sich von 
einer Massenarbeitslosigkeit keinen Einstieg 
in den Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft er- 
warten können, wie sich dies etwa R. Bahro 
vorstellt. Im Gegenteil, nichts dürfte mehr als 
ökologische Anliegen gefährden als eine Mas- 
senarbeitslosigkeit in ihrer jetzigen Form. 
Wird die Versorgung elementar in Frage ge- 
stellt, so fragt kein Mensch mehr nach dem 
„Sinn“ oder der Umweltfreundlichkeit der Ar- 
beit. „Erst kommt das Fressen, dann ...“ die 
Ökologie. Ein Zynismus reiner Arbeitsplatz- 
sicherung, koste es was es wolle, ist geradezu 
angelegt: Wertwandel im Wandel, im zykli- 
schen Wandel. Auch eine ökologische Alter- 
native wird also den Ausstieg aus der Wachs- 
tumsgesellschaft nicht auf der Basis drohender 
Verelendung, sondern „hohen Niveaus“ (Vo- 
bruba) erreichen müssen. Für die Bauwirt- 
schaft aber hieße das etwa, daß selbst wenn ein 
Schrumpfen langfristig erforderlich sei, die- 
ses kontrolliert und stetig unter Minimierung 
der sozialen Folgekosten zu geschehen habe. 
Dies aber heißt: krisenpolitisches Sofortpro- 
gramm für die Bauwirtschaft, die zu versteti- 
gen ein altes, volkswirtschaftlich sinnvolles 
Anliegen der Wohnungsreformbewegung 
war. Auch wenn sich bei Nöll von der Nahmer 
keine ausdrückliche Problematisierung hier- 
zu findet, so sind seine Techniken der Arbeits- 
beschaffung, so schockierend sie im ersten 
Moment wirken, von unersetzlicher Bedeu- 
tung. Und sein „Vorschlag“ markiert ja erst 
den Anfang einer Debatte; statt ihn zu ver- 
drängen, wäre eine schnelle Vertiefung der 
Debatte um die produktive Kreditschöpfung 
von größter Bedeutung. 
b) Letztlich kann sich Produktion nur am Be- 
darf legitimieren. Arbeitsbeschaffungspro- 
gramme lassen sich dann besser durchsetzen, 
vielfach auch organisieren, wenn der Bedarf 
klar gegeben ist. In elementarer, aber reiner 
Form findet sich dies bei den Tausch- bzw. 
Verrechnungsgemeinschaften (Ausgleichskas- 
sen) der Arbeitslosenselbsthilfeprojekte, bei 
denen sich Menschen in ihrer Doppelrolle als 
Erzeuger und Verbraucher zu einer arbeitstei- 
ligen Notgemeinschaft zusammenschließen 
(vgl. Novy 1982b). Nöll von der Nahmer greift 
in diesem Vorschlag eine ganze Branche auf 
sowie ein von ihr produziertes Gut, die Woh- 
nung, der in relative und absolute Knappheit 
normalerweise durch Preis und Zins bestimmt 
werden. Seit seinem Frühwerk hat Nöll von 
der Nahmer die Notwendigkeit und die 
Lenkungsfunktion des Zinses in Frage gestellt 
(vgl. auch Nöll von der Nahmer 1947; sowie 
Grotkopp S. 331f), vor allem in Krisenzeiten. 
Bedeutet es wirklich Kapitalfehlleitung und 
-verschwenung, wie immer eingewandt, wenn 
man den Wohnungsbau von den Zinsschwan- 
kungen abkoppelt und verstetigt? Ist der Zins 
ein besserer Maßstab für den Wohnungsbe- 
darf als die alltägliche Erfahrung des Feh- 
lens preiswerten Wohnraumes in Ballungs- 
räumen für einen immer größeren Teil der Be- 
völkerung. Es geht also Nöll von der Nahmer 
bei seinem „Vorschlag“ nicht um eine ord- 
nungspolitische Alternative, sondern um die 
momentane Lösung des Paradoxons brachlie- 
gender Ressourcen bei gleichzeitiger Woh- 
nungsnot, Warum sollen die als sinnvoll er- 
kannten Investitionen in mehr Wohnraum an 
der Zins- und Kreditfrage scheitern? 
Ungedecktes Geld? 
In der Finanzierungsfrage macht es Nöll von 
der Nahmer seinen Lesern nicht leicht. Denn 
er popularisiert hier die Ergebnisse einer 
längeren kredit- und konjunkturtheoretischen 
Debatte (vgl. die Dokumente in Bombach u.a. 
1981), ohne daß ihr Verlauf dem Leser be- 
kannt sein kann. Es bleibt dem Leser nur der 
ungute Eindruck: hier wird die Rettung in der 
Beschleunigung der Notenpresse gesehen. 
Was also ist die „produktive Kredit- 
schöpfung“ seitens des Staates? Jedenfalls 
nicht gemeint ist die „normale“ Staatsver- 
schuldung auf dem Anleihewege mit all ihren 
Folgen: Angewiesenheit auf die Kapitalmärk- 
te, hohe Zinsbelastungen, unerwünschte Um- 
verteilungseffekte, eventuell Verdrängung pri- 
vater Investitionen. Die produktive Kredit- 
schöpfung ist eine zusätzliche, nicht aus den 
vorhandenen Ersparnissen vollzogene Kredit- 
erweiterung. Diese Kredit- und Geld- 
schöpfung ist funktional gesehen jedoch kein 
Novum. Hören wir dazu einen der „Reformer“ 
und Zeitgenossen Nöll von der Nahmers, 
Heinrich Dräger. In seinr Schrift „Arbeitsbe- 
schaffung durch produktive Kredit- 
schöpfung“ (1932; hier nach Auszügen in: 
Grotkopp 1954. S. 357) heißt es: 
„Es herrscht weitgehend in der Wissenschaft Einstimmig- 
keit darüber, daß Perioden des Aufschwunges eingeleitet 
und gekennzeichnet werden durch die Neuschaffung von 
Geld (Giralgeld) seitens der Banken zugunsten der 
Schaffung neuer Produktionsmöglichkeiten durch die Pri- 
vatwirtschaft. Mit anderen Worten: Der Aufschwung pflegt 
eingeleitet zu werden durch ’Erweiterung des Kreditvolu- 
mens’, d.h. durch Kreditschöpfung für produktive Zwecke. 
Ferner steht unbestritten fest, daß Privatwirtschaft und pri- 
vate Banken diese Funktion jetzt nicht übernehmen kön- 
nen. Hieraus ergibt sich als Aufgabe und Pflicht des Staa- 
tes, die bisher von der Privatwirtschaft ausgeübte Funktion 
selbst zu übernehmen ... Solange die Neuschöpfung des 
Kredites durch den Staat erfolgt nach dem auch für die 
Neuschöpfung des Kredits durch die Privatwirtschaft in 
früheren Aufschwungperioden mit Erfolg benutzten Sche- 
ma, nämlich: Kreditschöpfung nur unter gleichzeitiger 
Schaffung neuer Produktionsmöglichkeiten, aber keine 
Kreditschöpfung für reine Verbrauchszwecke, solange wer- 
den auch jegliche schädliche inflatorische Nachwirkungen 
vermieden werden ... Bei Handhabung in diesem Sinne ist 
produktive Wirtschaftspolitik durch Vergrößerung des 
Kreditvolumens ohne schädliche inflatorische Nachwir- 
kung nicht nur möglich, sondern mehr noch, sogar dringen- 
de Pflicht“ 
Viele zeitgenössische Autoren hatten - in einer 
Zeit als die herrschende Orthodoxie noch an 
dem prozyklischen Anachronismus der Gold- 
deckung - versucht, den Kreditspielraum nicht 
monetär, sondern realwirtschaftlich zu be- 
stimmen. Neben Friedländer-Prechtl und 
Lautenbach gilt dies für NöH von der Nahmer; 
Grundthese: der „volkswirtschaftliche Kredit- 
fonds“ wird nur durch die brachliegenden 
sachlichen Ressourcen sowie durch das Ar- 
beitspotential beschränkt. Auch für die Zins- 
losigkeit dieser Kreditschöpfung wurden zahl- 
reiche real- und geldwirtschaftliche Gründe 
genannt (vgl. Zusammenstellung bei Grot- 
kopp S. 162ff und 358) - von den ethischen ein- 
mal abgesehen. 
Für all jene, die in der plötzlichen Vermeh- 
rung der Geldmenge ein unerträgliches 
Phänomen sehen, seien daran erinnert, daß 
viele akzeptierte Prozesse ein analoges Ergeb- 
nis zeitigen: etwa plötzliche Veränderungen 
der Devisen- oder Goldbestände, (ein alltägli- 
ches Phänomen in den frühen 70er Jahren) die 
auf Aufnahme einer größeren Auslandsan- 
leihe sowie der Marshall-Plan, der - funk- 
tional gesehen, auch in der späteren Konstitu- 
jerung eines „revolvierenden Fonds“ (bei der 
Kreditanstalt für Wiederaufbau) - dem Nöll 
von der Nahmerschen Vorschlag sehr nahe 
kommt. 
Auch das gegen den Keynesianismus immer 
ins Feld geführte Argument, daß eine nach- 
frageorientierte Konjunkturpolitik an der 
Weltmarktintegration verpufft, trifft den 
„Vorschlag“ Nölls wenig, da hier die Mittel 
zweckgebunden - gleichsam als Krisenbau- 
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