1. Zu einer Methode der sozialräumlichen
Analyse
Das, was ich mache, ist sehr von persönlicher
Erfahrung geprägt. Es ist ein Versuch, das
Zusammenleben in der Stadt, den Komplex
vieler Strähnen zusammengewebter Bezie-
hungen unterschiedlicher Menschen und
Räume in ihrem Zusammenkommen zu
erfassen und sichtbar zu machen. Ich habe in
London gelebt und Filme gemacht, in einem
alten Viertel gewohnt, südlich der Themse,
von Bomben im Krieg weitgehend beschä-
digt. Durch das Gebiet führt eine breite
Straße. Auf der einen Seite der Straße ist nach
dem Krieg neu aufgebaut worden, mit
Hochhäusern der 60er Jahre, z.T. waren sie
„preisgekrönt“. Den Menschen, die vor dem
Krieg dort wohnten, wurde nach dem Wieder-
aufbau eine neue Wohnweise aufgezwungen.
Auf der anderen Seite der großen Straße blieb
noch eine Insel des alten London, ein Square,
an dem Charlie Chaplin einmal gewohnt
hatte, wo Lady Hamilton von einem Dach
nach Nelson ausschaute, wenn er mit seinem
Schiff die Themse hochfuhr.
Wir waren die ersten von „außerhalb“, die
dorthin kamen, um dort zu wohnen, nicht
wissend, was wir mit uns brachten. Auf der
anderen Seite der Straße gab es Vandalismus.
Die Leute kannten sich kaum mehr. In
unserem West Square war alles anders. In den
Pub an der Ecke kamen dreimal in der Woche
zum Teil vier Generationen und saßen
zusammen an einem Tisch. Die Omas wurden
jeden Abend abgeholt; die, die ihr Bier nicht
bezahlen konnten, wurden natürlich eingela-
den. Wir, die Neuen, haben gar nicht verstan-
den, was wir den Menschen um den West
Square, die ganze Häuserreihen ohne Bad,
jedes Haus für 1 Pfund die Woche bewohnten,
angetan haben. Die Gegend wurde langsam
„gentrifiziert“. Und die Leute, die da wohnten,
mehrere Generationen in einem Square, sich
treffend in einem Pub, beim Bäcker, wurden
von den Wohnungsbaugesellschaften oder
vom „GLC“, dem Bezirksamt, gefragt, wenn
sie umziehen mußten, was sie denn eigentlich
wollten, wenn sie umziehen sollten in Häuser
wie die auf der anderen Straßenseite. Die
Leute vom West Square hatten lange ohne
Bäder gelebt, so antworteten sie nach dem
Fernsehklischee: „... und wenn ich endlich ein
Bad habe, dann will ich rosafarbene Fliesen in
meinem Bad haben“.
Und so sind sie weggezogen in eine neue
Siedlung, wo sie niemanden kannten, wo die
Oma nicht mehr an der Treppe stand, den
Vorgarten überblickte und den Square mit
pflegte. Sie sind weggezogen zu ihren Bädern,
mit ihren rosafarbenen Fliesen und haben
nicht gewußt oder verstanden, was sie da am
West Square verloren hatten. Sie hatten es
nicht gewußt; und die anderen, die ihnen gut-
meinend Fragen stellten, haben auch nicht
verstanden, was sie vergessen hatten zu fragen.
In dieser Zeit beschäftigte ich mich mit
Fragen der Anthropologie und non-verbaler
Kommunikation, Fragen von Kultur, Wahr-
nehmung und Verhalten. In dieser Zeit ent-
wickelte ich für Anthropologen eine Methode
der vergleichbaren fotogfafischen Erfassung
von kulturell bedingtem Verhalten und
Nutzung von Raum. Doch dann schien mir
wichtiger, diese Technik am West Square
einzusetzen für die, die ihre Kosenamen durch
ihren Standort am Platz bezogen haben, für
die Nachbarschafts-Historiker, für die Leute
und ihre „erlebte Nachbarschaft“.
Am Anfang stand eine Methode der foto-
grafischen Datenerhebung. Es stellte sich die
Frage, wie kann man erfassen, wie Raum
genutzt wird, und wenn man das erfaßt hat,
wie kann man feststellen und nachfragen,
warum der Raum in der beobachteten Weise
genutzt wird?
Toni Sachs-Pfeiffer
Sozialräumliche Zonierung
Bemerkungen zu Nutzung und Raum
Wann immer verschiedene Menschen einen
Raum betreten, in dem sich viele andere
aufhalten - auf einem Fest zum Beispiel -
werden sie jeder für sich eine andere
Geschichte dieses Festes erzählen. Wer dort
war, und was er getan hat, mit wem er
gesprochen hat, wie die Stimmung war, je
nach unserer persönlichen Sehensweise erle-
ben wir das gleiche Ereignis in unterschied-
licher Weise.
Die Fotografien, die Zeitrafferfilme sollten
dazu dienen, eine objektivierte Erfassung des
tatsächlichen Geschehens zu ermöglichen.
Auf der Basis der fotografischen Erhebung,
der Zählung und Analyse von Nutzung und
Verhalten der verschiedenen Gruppen im
Raum - wo, wie, wie lange sie sich aufgehalten
haben, sollten Fragen formuliert werden, die
an die Bewohner gestellt werden konnten. Die
Idee war, nicht danach zu fragen, was die
Bewohner sich wünschten, nicht auf der Ebene
der Kulturklischees zu bleiben und Antworten
zu bekommen von grünem oder rosafarbe-
nem Bad, sondern auf eine ganz andere Ebene
von Fragen zu gelangen: Was machen die
Gefühle der Zugehörigkeit im Wohnumfeld
aus? Inwieweit trägt das Gefühl des Wohl-
befindens im Wohnumfeld zu einer anders-
artigen, tieferen Identifikation, einer viel-
fältigeren Form der Nutzung des Wohn-
umfeldes bei? Wie könnte man tatsächliche
Bedürfnisse, die nicht leicht verbalisiert
werden, die den Befragten oft nicht bewußt
sind, erfassen und mit verbalisierten Wunsch-
vorstellungen vergleichen?
Die einzige Ausgangshypothese war: Wenn
Kommunikation oder menschliche Inter-
aktion systematischen Regelmäßigkeiten un-
terliegt - so wie die Sprache selbst - muß dann
das System der sozialräumlichen Interaktion
sichtbar werden und für die Planung nachvoll-
ziehbar sein, wenn dieses Verhalten der Nutzer
selbst systematisch erfaßt wird? Eine simple
Idee mit simplen Techniken von Erhebung
und Zählungen mit Rückkopplung auf das
fotografische Material als Unterbau für
Leitfadengespräche. Jeder, der den Raum
nutzt und damit Interesse am Raum äußert,
soll mit der Analyse erfaßt werden. Es sollte so
sein, als wenn alle, die auf dem hypotheti-
schen Fest eingeladen waren, ihre Geschichte
erzählen könnten, aber parallel dazu sollte das
Fest durch Film und Fotos festgehalten
werden; war es schlecht, sollte auch feststell-
bar sein, warum, und zwar alıs jeder Ecke und
aus jeder Perspektive.
Sozialräumliche Nutzungsanalysen und die
damit verbundenen Studien versuchen eine
prinzipiell andere Form der „Bürgerbeteili-
gung“ zu gewährleisten: eine Bürgerbeteili-
gung, die sich über die Grenzen bloßer
Präferenzäußerungen und der Artikulation
von Wünschen hinausbewegt. Die Abhängig-
keit von den Sprachgewandten sollte über-
wunden werden. Es sollten die tagtäglichen,
oft übersehenen Bedürfnisse der normalen
Bewohner sichtbar gemacht werden.
Mit der Methode einer systematischen
fotografischen Prozeßbeobachtung besteht
die Möglichkeit, die Planung an den tat-
sächlichen Nutzungsbedürfnissen zu überprü-
fen und über mehrere Phasen der Planung
Prüfsteine für die tatsächliche Nutzung in den
Planungsprozeß zu setzen. So beschränkt man
sich nicht auf eine kurzfristige „aktionistische“
Partizipation - die herkömmliche Form der
Bürgerbeteiligung -, durch die die Bewohner
eine Mitbestimmung bei der Wahl von Gestal-
tungs- und Einrichtungselementen ausüben;
es geht vielmehr um einen neuen Prozeß des
Miteinbeziehens aller, darum, scheinbar in
Konflikt stehende Interessen und Bedürfnisse
so aneinanderzubinden, daß sie dem einzelnen
Wahlfreiheit erlauben. So kann eine vielfäl-
tige und flexible Stadt entstehen, in der sich
jeder in seiner Eigenart zugehörig fühlen
kann, wo gesicherte Teilnahme und dadurch
langfristiges Teilhaben des Bewohners am
Raum gewährleistet werden kann.!
2. Zur Beziehung von Nutzung und Raum
Durch die fotografische Datenerhebung, ins-
besondere durch die Erfassung bestimmter
Raumteile mit Zeitraffer in Abständen über
mehrere Jahre hinweg, wurde deutlich, daß
der angenommene und damit angeeignete
Nutzungsraum nicht durch vorgeschriebene
Funktionszuweisungen, sondern vielmehr
durch eine differenzierte räumliche Unter-
teilung und Zuordnung entsteht. So mußte
nach einer neuen Definition von „Nutzung“
gesucht werden, einer Definition, die tatsäch-
liche Nutzungsformen getrennt von Funk-
tionen betrachtet.
„Tatsächliche Nutzung“ besteht nicht in
einer linearen Aneinanderreihung von soge-
nannten Funktionen. Das, was im gebauten
Raum „funktioniert“, ist vom Nutzer her
gesehen ein komplexes Gefüge von Erlebnis /
Wahrnehmung / Einschätzung / Einstellung /
Aktion / Reaktion, die schließlich in
Aktivitäten, passiv oder aktiv, einmünden.
Eine bedürfnisgerechte Gestaltung erkennt die
Erfahrungsbasis sozialräumlichen Verhaltens
an. Räume sind nur dann verfügbar und
annehmbar, wenn sie ermöglichen, daß
Nutzungsbedürfnisse in ihnen artikuliert und
ausgelebt werden können. Räume, die über
mehrere Jahre mit Zeitraffer beobachtet
wurden, weisen über Jahre hinaus die gleichen
Nutzungsmuster auf. Das läßt sich nur so
erklären, daß eine enge Beziehung zwischen
den Formen, der Beschaffenheit des Raums
und den dadurch erzeugten tatsächlichen
Nutzungsmöglichkeiten besteht.
Wenn man davon ausgeht, daß die Nutzer
selbst. (unabhängig von Alter, Geschlecht,
Nationalität ...) rollenbezogen nach der Art
ihrer Nutzung betrachtet werden sollen,
stellen sich verschiedene Nutzergruppen her-
aus, die unterschiedliche Ansprüche an den
Raum stellen, aber gleichzeitig den Raum
miteinander teilen. Beispiele für verschiedene
Nutzerrollen sind: „Durchgänger“, „Ver-
weilende“, „Wartende“. Diese sogenannten
rollenbezogenen Tätigkeiten werden jedoch
von dem einzelnen selten monofunktional
verkörpert, zeigen nicht die Gesamtheit seines
Verhaltens. „Durchgänger“ sind auch zugleich
„Wartende“, „Sich treffende“, „Beobach-
tende“ oder „Verweilende“ und kommen
schließlich an ihrem gewählten Zielort an,
nachdem sie solche verschiedenen Rollen
wahrgenommen haben. Das führt dazu, daß
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