Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

1. Zu einer Methode der sozialräumlichen 
Analyse 
Das, was ich mache, ist sehr von persönlicher 
Erfahrung geprägt. Es ist ein Versuch, das 
Zusammenleben in der Stadt, den Komplex 
vieler Strähnen zusammengewebter Bezie- 
hungen unterschiedlicher Menschen und 
Räume in ihrem Zusammenkommen zu 
erfassen und sichtbar zu machen. Ich habe in 
London gelebt und Filme gemacht, in einem 
alten Viertel gewohnt, südlich der Themse, 
von Bomben im Krieg weitgehend beschä- 
digt. Durch das Gebiet führt eine breite 
Straße. Auf der einen Seite der Straße ist nach 
dem Krieg neu aufgebaut worden, mit 
Hochhäusern der 60er Jahre, z.T. waren sie 
„preisgekrönt“. Den Menschen, die vor dem 
Krieg dort wohnten, wurde nach dem Wieder- 
aufbau eine neue Wohnweise aufgezwungen. 
Auf der anderen Seite der großen Straße blieb 
noch eine Insel des alten London, ein Square, 
an dem Charlie Chaplin einmal gewohnt 
hatte, wo Lady Hamilton von einem Dach 
nach Nelson ausschaute, wenn er mit seinem 
Schiff die Themse hochfuhr. 
Wir waren die ersten von „außerhalb“, die 
dorthin kamen, um dort zu wohnen, nicht 
wissend, was wir mit uns brachten. Auf der 
anderen Seite der Straße gab es Vandalismus. 
Die Leute kannten sich kaum mehr. In 
unserem West Square war alles anders. In den 
Pub an der Ecke kamen dreimal in der Woche 
zum Teil vier Generationen und saßen 
zusammen an einem Tisch. Die Omas wurden 
jeden Abend abgeholt; die, die ihr Bier nicht 
bezahlen konnten, wurden natürlich eingela- 
den. Wir, die Neuen, haben gar nicht verstan- 
den, was wir den Menschen um den West 
Square, die ganze Häuserreihen ohne Bad, 
jedes Haus für 1 Pfund die Woche bewohnten, 
angetan haben. Die Gegend wurde langsam 
„gentrifiziert“. Und die Leute, die da wohnten, 
mehrere Generationen in einem Square, sich 
treffend in einem Pub, beim Bäcker, wurden 
von den Wohnungsbaugesellschaften oder 
vom „GLC“, dem Bezirksamt, gefragt, wenn 
sie umziehen mußten, was sie denn eigentlich 
wollten, wenn sie umziehen sollten in Häuser 
wie die auf der anderen Straßenseite. Die 
Leute vom West Square hatten lange ohne 
Bäder gelebt, so antworteten sie nach dem 
Fernsehklischee: „... und wenn ich endlich ein 
Bad habe, dann will ich rosafarbene Fliesen in 
meinem Bad haben“. 
Und so sind sie weggezogen in eine neue 
Siedlung, wo sie niemanden kannten, wo die 
Oma nicht mehr an der Treppe stand, den 
Vorgarten überblickte und den Square mit 
pflegte. Sie sind weggezogen zu ihren Bädern, 
mit ihren rosafarbenen Fliesen und haben 
nicht gewußt oder verstanden, was sie da am 
West Square verloren hatten. Sie hatten es 
nicht gewußt; und die anderen, die ihnen gut- 
meinend Fragen stellten, haben auch nicht 
verstanden, was sie vergessen hatten zu fragen. 
In dieser Zeit beschäftigte ich mich mit 
Fragen der Anthropologie und non-verbaler 
Kommunikation, Fragen von Kultur, Wahr- 
nehmung und Verhalten. In dieser Zeit ent- 
wickelte ich für Anthropologen eine Methode 
der vergleichbaren fotogfafischen Erfassung 
von kulturell bedingtem Verhalten und 
Nutzung von Raum. Doch dann schien mir 
wichtiger, diese Technik am West Square 
einzusetzen für die, die ihre Kosenamen durch 
ihren Standort am Platz bezogen haben, für 
die Nachbarschafts-Historiker, für die Leute 
und ihre „erlebte Nachbarschaft“. 
Am Anfang stand eine Methode der foto- 
grafischen Datenerhebung. Es stellte sich die 
Frage, wie kann man erfassen, wie Raum 
genutzt wird, und wenn man das erfaßt hat, 
wie kann man feststellen und nachfragen, 
warum der Raum in der beobachteten Weise 
genutzt wird? 
Toni Sachs-Pfeiffer 
Sozialräumliche Zonierung 
Bemerkungen zu Nutzung und Raum 
Wann immer verschiedene Menschen einen 
Raum betreten, in dem sich viele andere 
aufhalten - auf einem Fest zum Beispiel - 
werden sie jeder für sich eine andere 
Geschichte dieses Festes erzählen. Wer dort 
war, und was er getan hat, mit wem er 
gesprochen hat, wie die Stimmung war, je 
nach unserer persönlichen Sehensweise erle- 
ben wir das gleiche Ereignis in unterschied- 
licher Weise. 
Die Fotografien, die Zeitrafferfilme sollten 
dazu dienen, eine objektivierte Erfassung des 
tatsächlichen Geschehens zu ermöglichen. 
Auf der Basis der fotografischen Erhebung, 
der Zählung und Analyse von Nutzung und 
Verhalten der verschiedenen Gruppen im 
Raum - wo, wie, wie lange sie sich aufgehalten 
haben, sollten Fragen formuliert werden, die 
an die Bewohner gestellt werden konnten. Die 
Idee war, nicht danach zu fragen, was die 
Bewohner sich wünschten, nicht auf der Ebene 
der Kulturklischees zu bleiben und Antworten 
zu bekommen von grünem oder rosafarbe- 
nem Bad, sondern auf eine ganz andere Ebene 
von Fragen zu gelangen: Was machen die 
Gefühle der Zugehörigkeit im Wohnumfeld 
aus? Inwieweit trägt das Gefühl des Wohl- 
befindens im Wohnumfeld zu einer anders- 
artigen, tieferen Identifikation, einer viel- 
fältigeren Form der Nutzung des Wohn- 
umfeldes bei? Wie könnte man tatsächliche 
Bedürfnisse, die nicht leicht verbalisiert 
werden, die den Befragten oft nicht bewußt 
sind, erfassen und mit verbalisierten Wunsch- 
vorstellungen vergleichen? 
Die einzige Ausgangshypothese war: Wenn 
Kommunikation oder menschliche Inter- 
aktion systematischen Regelmäßigkeiten un- 
terliegt - so wie die Sprache selbst - muß dann 
das System der sozialräumlichen Interaktion 
sichtbar werden und für die Planung nachvoll- 
ziehbar sein, wenn dieses Verhalten der Nutzer 
selbst systematisch erfaßt wird? Eine simple 
Idee mit simplen Techniken von Erhebung 
und Zählungen mit Rückkopplung auf das 
fotografische Material als Unterbau für 
Leitfadengespräche. Jeder, der den Raum 
nutzt und damit Interesse am Raum äußert, 
soll mit der Analyse erfaßt werden. Es sollte so 
sein, als wenn alle, die auf dem hypotheti- 
schen Fest eingeladen waren, ihre Geschichte 
erzählen könnten, aber parallel dazu sollte das 
Fest durch Film und Fotos festgehalten 
werden; war es schlecht, sollte auch feststell- 
bar sein, warum, und zwar alıs jeder Ecke und 
aus jeder Perspektive. 
Sozialräumliche Nutzungsanalysen und die 
damit verbundenen Studien versuchen eine 
prinzipiell andere Form der „Bürgerbeteili- 
gung“ zu gewährleisten: eine Bürgerbeteili- 
gung, die sich über die Grenzen bloßer 
Präferenzäußerungen und der Artikulation 
von Wünschen hinausbewegt. Die Abhängig- 
keit von den Sprachgewandten sollte über- 
wunden werden. Es sollten die tagtäglichen, 
oft übersehenen Bedürfnisse der normalen 
Bewohner sichtbar gemacht werden. 
Mit der Methode einer systematischen 
fotografischen Prozeßbeobachtung besteht 
die Möglichkeit, die Planung an den tat- 
sächlichen Nutzungsbedürfnissen zu überprü- 
fen und über mehrere Phasen der Planung 
Prüfsteine für die tatsächliche Nutzung in den 
Planungsprozeß zu setzen. So beschränkt man 
sich nicht auf eine kurzfristige „aktionistische“ 
Partizipation - die herkömmliche Form der 
Bürgerbeteiligung -, durch die die Bewohner 
eine Mitbestimmung bei der Wahl von Gestal- 
tungs- und Einrichtungselementen ausüben; 
es geht vielmehr um einen neuen Prozeß des 
Miteinbeziehens aller, darum, scheinbar in 
Konflikt stehende Interessen und Bedürfnisse 
so aneinanderzubinden, daß sie dem einzelnen 
Wahlfreiheit erlauben. So kann eine vielfäl- 
tige und flexible Stadt entstehen, in der sich 
jeder in seiner Eigenart zugehörig fühlen 
kann, wo gesicherte Teilnahme und dadurch 
langfristiges Teilhaben des Bewohners am 
Raum gewährleistet werden kann.! 
2. Zur Beziehung von Nutzung und Raum 
Durch die fotografische Datenerhebung, ins- 
besondere durch die Erfassung bestimmter 
Raumteile mit Zeitraffer in Abständen über 
mehrere Jahre hinweg, wurde deutlich, daß 
der angenommene und damit angeeignete 
Nutzungsraum nicht durch vorgeschriebene 
Funktionszuweisungen, sondern vielmehr 
durch eine differenzierte räumliche Unter- 
teilung und Zuordnung entsteht. So mußte 
nach einer neuen Definition von „Nutzung“ 
gesucht werden, einer Definition, die tatsäch- 
liche Nutzungsformen getrennt von Funk- 
tionen betrachtet. 
„Tatsächliche Nutzung“ besteht nicht in 
einer linearen Aneinanderreihung von soge- 
nannten Funktionen. Das, was im gebauten 
Raum „funktioniert“, ist vom Nutzer her 
gesehen ein komplexes Gefüge von Erlebnis / 
Wahrnehmung / Einschätzung / Einstellung / 
Aktion / Reaktion, die schließlich in 
Aktivitäten, passiv oder aktiv, einmünden. 
Eine bedürfnisgerechte Gestaltung erkennt die 
Erfahrungsbasis sozialräumlichen Verhaltens 
an. Räume sind nur dann verfügbar und 
annehmbar, wenn sie ermöglichen, daß 
Nutzungsbedürfnisse in ihnen artikuliert und 
ausgelebt werden können. Räume, die über 
mehrere Jahre mit Zeitraffer beobachtet 
wurden, weisen über Jahre hinaus die gleichen 
Nutzungsmuster auf. Das läßt sich nur so 
erklären, daß eine enge Beziehung zwischen 
den Formen, der Beschaffenheit des Raums 
und den dadurch erzeugten tatsächlichen 
Nutzungsmöglichkeiten besteht. 
Wenn man davon ausgeht, daß die Nutzer 
selbst. (unabhängig von Alter, Geschlecht, 
Nationalität ...) rollenbezogen nach der Art 
ihrer Nutzung betrachtet werden sollen, 
stellen sich verschiedene Nutzergruppen her- 
aus, die unterschiedliche Ansprüche an den 
Raum stellen, aber gleichzeitig den Raum 
miteinander teilen. Beispiele für verschiedene 
Nutzerrollen sind: „Durchgänger“, „Ver- 
weilende“, „Wartende“. Diese sogenannten 
rollenbezogenen Tätigkeiten werden jedoch 
von dem einzelnen selten monofunktional 
verkörpert, zeigen nicht die Gesamtheit seines 
Verhaltens. „Durchgänger“ sind auch zugleich 
„Wartende“, „Sich treffende“, „Beobach- 
tende“ oder „Verweilende“ und kommen 
schließlich an ihrem gewählten Zielort an, 
nachdem sie solche verschiedenen Rollen 
wahrgenommen haben. Das führt dazu, daß 
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