Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

Lübeck, die mittelalterliche wort. Die alte Stadt ist oft rückwärts gewandte Erinnerung. Zu- 
’Beispielstadt”” des Nordens gleich begann etwas Neues. 
Seraßburg mit sclmem ursprünglichen Vom Sieg der neuen Herren und ihrem Mißtrauen gegenüber 
-ömischen Castrum Argentorate der Bürgerstadt zeugen die waffenstarrenden Festungssterne, wie 
’Punktlinie) Mannheim, die Zitadellen wie der Tower oder die Bastille, die zwi- 
schen sich und „das Volk” ein Schußfeld legten. Doch das neue, 
Öökonomisierte Bürgertum arrangierte sich mit der neuen Macht, 
da diese die bürgerliche Elite an den Hof holte, um einmal ihre 
nicht mehr gottgebundene Macht zu legitimieren, zum anderen, 
um den alten Adel in Schach zu halten. In ihrem Auftrag entstan- 
den die Befestigungsentwürfe eines Dürer und Michelangelo, die 
Entwürfe für Kriegsmaschinen eines Leonardo da Vinci, die Ideal- 
stadtpläne eines Filarete, Alberti, Speckle und Perret. 
Wichtiger war jedoch: die merkantilistische Wirtschaftspolitik 
entsprach völlig den Erfordernissen des Bürgertums. Der Staat 
übertrug die Prinzipien des kapitalistischen. Erwerbsbetriebs auf 
die Politik, förderte das Gewerbe, regulierte durch Einfuhr- und 
Ausfuhrzölle und -verbote den Rohstoff- und Absatzmarkt und si- 
cherte die Handelswege. Stadt begann sich in Residenzen zu bil- 
den. Das Land versorgte die Menschen, schlecht mehr als recht, 
und die Soldaten. Hintergrund dieser Veränderungen war eine 
völlig neue Arbeitsorganisation. Vorangegangen war wieder eine 
Umstrukturierung der Landwirtschaft durch neue Anbaumetho- 
den und -arten. Dadurch erhöhte sich ihre Produktivität. Techni- 
sche Innovationen führten zu einem großen Aufschwung von 
Beispiel eines ausgeführten Idealplans: La Valetta auf Malta, 1566 Bergbau und Gewerbe. Es entstanden das Verlagswesen und die 
Manufaktur. Sie brauchten eigentlich keine Stadt, konnten sich 
von den alten Bindungen entfernen. 
Damit hatte sich der unternehmende Bürger endgültig aus den 
genossenschaftlichen und bedarfsorientierten Bindungen der mit- 
telalterlichen Stadt gelöst. Die neuen Gewinne konnten aus der 
mangelnden Produktivitätssteigerung und den sinkenden Handels- 
spannen nicht mehr realisiert werden. Auch die technischen Inno- 
vationen, wie Spinnräder, Drehmaschinen, Drahtmühlen, Walz-, 
Mahl- und Pochwerke, scheiterten oft am Veto der Zünfte. Zunft 
beharrte, verschloß sich dem Neuen. Gleichzeitig lockerte die 
merkantilistische Wirtschaftspolitik die feudalen Beschränkungen 
der Landbevölkerung. Auch dort hatte die Neuorganisation zu ei- 
ner größeren Differenzierung geführt. Viele vom Hunger Bedroh- 
te konnten im Verlag eine Existenzsicherung finden. So breitete 
sich das Verlagswesen auf dem Land in immer größeren konzentri- 
schen Kreisen um die Städte aus. Effektiver noch arbeiteten ent- 
f ßS stehende „Industrien”, die Manufakturen. Der Fürst garantierte, 
PERS SE daß es sich lohnte, in die neue Produktion zu investieren. In den 
neuen Betrieben war die Arbeit zentralisiert und damit wieder un- 
ter Kontrolle. Eine größere Arbeitsteilung steigerte die Produk- 
Naturphilosophien und -wissenschaften, die frühkapitalistischen On. Auch Frauen und Kinder konnten eingestellt werden. Arbeit 
Handelsmonopole. Man entdeckte Amerika. der ganzen Familie war immer Voraussetzung der Existenzsiche- 
Das Ergebnis dieser Umwälzung war die Herausbildung des mo- AU N nd ES Ras a ni N De 
dernen Flächenstaates, aber auch der neuen Technik, eines me- wol SL, SOC JETTL GES}. DEBAUALCIEEFCHAUN ZWISCHSA 
en an HE ATTE N 7 ohn- und Arbeitsbereich. 
chanistischen Weltbildes. Der Territorialfürst hatte die politische ij Sn % N A 
Eigenständigkeit der Stadt brechen können. Er wandte dabei die Weit schwieriger als die Neuordnung der Arbeit war die 
„städtischen” Prinzipien auf die Organisation seines Staates an. Er Neuordnung der Köpfe und Gefühle der Menschen. Das Bürger- 
war aus der tiefen wirtschaftlichen Krise und den Pestjahren des tum hatte sich bereits früh an die Erfordernisse der veränderten 
14. Jahrhunderts als Sieger über die vielen autonomen Gewalten Produktion angepaßt. Es profitierte von den Ergebnissen seiner 
hervorgegangen. Die personalen und naturalen Bindungen wur- rationalen Betrachtungsweise der Natur und übersetzte die von 
den abgelöst durch Geldwirtschaft und öffentliche, rechtlich und Seiner Führungsgruppe entdeckten Wissenschaften in eine neue 
militärisch gesicherte Institutionen. Von der Hofkanzlei aus orga- Technologie und in eine ökonomische Verwertbarkeit, ideologisch 
nisierte er Verwaltung, Gericht, Steuern und sein Heer übernahm abgesichert durch den neuen „Geist des Kapitalismus” (M. We- 
den Schutz der Untertanen nach innen und außen. Er schnitt den ber). Bei der überwiegenden Bevölkerung der Bauern, Handwer- 
Städten das Hinterland ab und raubte ihnen damit den Lebens- Ker und Tagelöhner dauerte es weit länger als ein Jahrhundert, bis 
nerv. Das dauerte lange, aber dies gliedert die politische Stadtge- sie ihre Lebens- und Verhaltensweisen der bürgerlichen Zeitöko- 
schichte. | nomie angepaßt hatte. 
Tiefe religiöse und soziale Spannungen durch die Reformation Die Methoden, den Menschen „industriösen” Geist beizubrin- 
und die Preisrevolution des 16. Jahrhunderts beendeten die städti- gen und ihnen Ordnung, Pünktlichkeit und Disziplin einzubleuen, 
sche Blüte. Der Rat verkrustete zur sich selbst rekrutierenden Ob- reichten von der Zwangsarbeit in Armen-, Waisen- und Zuchthäu- 
rigkeit und rief zu seinem Schutz immer mehr nach der Hilfe der sern bis zu Industrieschulen, die nur Anhängsel von Manufakturen 
neuen Staatsgewalt. Die Zünfte schlossen sich zur Besitzstands- waren, um billige Arbeitskräfte zu rekrutieren. Die Blutgesetze in 
wahrung ab. Die Armen wurden oft in Arbeitshäuser kaserniert. England z.B. bedrohten Bettelei und Müßiggang sogar mit der To- 
Jetzt erst wurden die Städte eng und ihre Luftmachteunfrei. Den desstrafe. In diesem Sinne arbeiteten staatliche Verwaltung und 
Verlust der Macht versuchten die Stadtherrn durch noch prächti- Unternehmer für beide einträglich zusammen. Trotzdem beengten 
gere Rathausbauten auszugleichen. Meist sind es nicht mehr die letztlich die merkantilen Fesseln den bürgerlichen Expansions- 
Zeugen der alten Stadtfreiheit, die wir heute in den mittelalterli- drang. Statt in Investitonen floß der Reichtum schließlich in die 
chen Städten bewundern, sondern die Kulisse, die ihren Verlust fürstliche Schatulle und damit fast ausschließlich in die Residenz- 
verdecken sollte. Sie waren eine idyllisierende Antwort auf eine stadt. Sie profitierte allein, sie allein war schließlich bezahlbar und 
tiefgreifende Veränderung der Arbeitswelt, ihre politische Ant- existenzfähig, Inbild der neuen Arbeitsorganisation.
	        

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