Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1984, Jg. 17, H. 73-78)

sind, ohne aufgehöhrt zu haben, schwarz oder weiß zu sein, ausge- bemerken bald, daß dies gelingt, wenn wir die Finger flatternd, 
löscht in einer glänzend reflektierenden Oberfläche. Hierin sind sie gleichsam wie Flimmerhaare, bewegen. Allerdings ist dieses Sehen 
gelöscht, bewahrt und ... emporgehoben. „Emporgehoben”: dieses eher ein Fühlen wie ein-Sehen. Wir versuchen, die Hände noch zu 
sogar im buchstäblichen Sinn. Denn es ist ja mit dem stereoskopi- fühlsehen, wenn die Arme schon über 180° nach hinten gebogen 
schen Sehen so bestellt, daß es ein und denselben Gegenstand in sind. Die Flimmerbewegung der Finger tritt seitlich vom äußersten 
einer Getrenntheit von sich selbst vorstellt, und zwar dadurch, daß Rand her in den Bereich der Augenlinse ein als ein Reiz, der an der 
die beiden Augen ihn aus zwei Winkeln sehen. Die Erklärung dafür, Grenze zwischen Sehen und Bewegungsempfindung liegt. Man 
daß ein Finger, den man sich vor die Nase hält, hin und her springt, weiß nicht zu entscheiden, ob man die spielenden Finger noch als 
wenn man ihn abwechselnd mit dem rechten und linken Auge anvi- eine Eigenbewegung empfindet, oder ob man sie schon sieht. Ein 
siert. Stellen wir statt der schwarzen und weißen Felder die beiden Wesentliches bringt dieser Versuch zur Erfahrung: den gegenstan- 
stereoskopisch aufgenommenen Fotos ein und desselben Gegen- dentbundenen Blick; den Blick „ins Offene”. Deshalb ins Offene, 
standes in das Gerät (oder vor die bloßen Augen), so erscheint, wie weil der Blick nur durch Richtungslosigkeit, durch Nicht- und 
jedermann bekannt, die Fotografie dreidimensional und so verblüf- Nichts-Ansehen, die seitlichen Grenzreize wahrnehmen kann. Bei 
fend körperhaft, daß man meint, drumherum greifen zu können. diesem völligen Offensein gegenüber dem (übrigens ovalen) Sicht- 
Das optisch Dreidimensionale verhält sich hier zum optisch Zwei- feld kommt es zur Erfahrung einer Empfindung, deren Wurzeln 
dimensionalen des Gegenstandes in seiner dualen Gespaltenheit vermutlich in die Frühschichten der Keimentwicklung hinabrei- 
wie Glanz zu Schwarz und Weiß: die beiden getrennten Ansichten chen: in das raum-zeitliche Ereignisganze, aus dem die Augenkerne 
des Gegenstandes sind in dessen dreidimensionaler Erscheinung als mit dem Hirnstamm verbundene Drüsen hervorgingen. Diese 
gelöscht, bewahrt und - eben buchstäblich aus der Ebene heraus - Erfahrung dürfte als eine nervliche Rückbindung an die tiefsten, 
in Räumliche emporgehoben. Das Geheimnis, womit dem Auge weil anfänglichsten Schichten der Ausgliederungsvorgänge des Or- 
dieser Dimensionssprung gelingt, durch den das Gespaltene einer ganismus zu verstehen sein. So ist auch erklärbar, daß sich beim 
n-Dimension ein Ganzes ist in einer n + 1-Dimension, ist offenkun- richtungs- oder gegenstandsfreien Sehen die Empfindung einstellt, 
dig: es fixiert den Gegenstand nicht. So, wie es die Leuchtziffern der das Sehvermögen wurzele im Rücken, rechts und links vom Rük- 
Uhr im Dunkeln nicht fixiert, um sie sehen zu können. Das Auge kenmarkstrang. Und damit zusammenhängend wären auch die Ge- 
wagt das Dunkel oder, wenn man so will: das Nicht-Licht, um Licht- genstände im vorderen Sehfeld Projektionen (oder Ausläufer) von 
haftes wahrzunehmen. Hier begegnen wir wieder der Grundeigen- Dingen, die im Rücken liegen. Plötzlich spüren wir, daß das Aktua- 
schaft eines Prozesses als eines Pendelns zwischen Sicherung und le, dem wir im Wachzustand hingegeben (oder ausgeliefert) sind 
Entsicherung. Als Kindern bereitete uns das Bedürfnis, das Prozes- von einem nicht faßbaren Potential im Rücken gespeist wird. Das, 
suale eines Prozesses zu erfahren, das Vergnügen, über Balken, was vorne geschieht, ist das Mündungsdelta von Strömen, die hin- 
Schienen, Dachfirste und andere schmale Gefährlichkeiten zu ter meinem Rücken entspringen. Diese Empfindung ist deswegen 
balancieren. Wir erfuhren im Risiko dieser Art des Gehens, daß das eine folgenreiche Selbstentdeckung, weil sich mit ihr das einseitig 
normale Gehen selber und als solches und sogar auch das Still- Vorne der gewohnten Lebensrichtung durch Rückbindung an einen 
stehen gleichbedeutend ist mit Balancieren; und das Balancieren hinterwärtigen Anfang zu dem Regelkreis schließt, durch den das 
eben nur gelingt, wenn wir weder die nächste Auftrittstelle noch linear zielende Gerichtetsein erst Sinn erhält. In der Tat: durch ge- 
irgendeinen anderen Festpunkt anvisierten, sondern den Blick wisse elektronische Reizeinwirkungen auf Nervenfelder seitlich der 
angstfrei für die Weite des ganzen Horizontes offenhielten. Anders Wirbelsäule lassen sich Seheindrücke bei Blinden erzielen. 
und allgemeiner ausgedrückt: um im Endlichen sicher zu gehen, Wir befinden uns in einem dunklen Raum. Von der Decke hängt 
mußten wir uns dem Unendlichen öffnen. Es ist dies das Verhalten, eine weiße Kugel von etwa Kürbisgröße. Nun soll die Erfahrung die 
das man beim Schilaufen, am Steuer des Autos, beim Bersteigen Behauptung beweisen, daß die Kugel im Hellen ebensowenig als 
oder als Fallschirmspringer zu erlernen hat. Hierzu ein einfacher Kugel erscheint wie im Dunkeln. Das allseitig ausleuchtende Licht- 
Selbstversuch aus dem Stand heraus. bündel eines Scheinwerfers wird auf die Kugel gerichtet: mit dem 
Bei aufrechter Haltung und waagerecht ausgestreckten Armen Effekt, daß sie in der Tat nicht als Kugel erscheint, sondern als 
beschreiben wir mit den Händen Luftzeichen, und zwar in will- flache Scheibe. In totaler Ausleuchtung verliert sie ihre Erschei- 
kürlich aktiver Weise nur mit einer Hand, etwa der rechten, wäh- nungs-Wirklichkeit ebenso wie in der Dunkelheit. So stellt sich die 
rend die andere (linke) Hand mit unwillkürlichen Bewegungen Frage, wann denn nur und unter welcher Bedingung die Kugel als 
denen der rechten Hand folgt. Dabei erfahren wir, daß die „passive” das erscheint, was sie ist. Die Antwort erteilt sie uns, wenn wir sie 
Hand das jeweils annähernd genaue Spiegelbild von dem Zeichen weder totalen Helligkeit noch der Dunkelheit aussetzen, sondern 
in die Luft schreibt, das die aktive Hand vollführt. Mag das Zeichen dem Zusammenspiel beider, dem Licht und dem Nichtlicht. 
noch so kompliziert sein. Wir gehen dabei so vor, daß von einer Seiter her Licht auf die 
Diesen Vorgang können wir auch im Kleinen ausführen: wirneh- Kugel fällt, so daß sie sich nach der entgegengesetzten Seite hin 
men Schreibstifte in die rechte und linke Hand, um mit einer der abschattet. Nunmehr wird die Kugel raumhaft gesehen und 
beiden aktiv in normaler Schreibschriftgröße zu schreiben, wäh- erscheint so als Kugel. Damit erweist sich die Kugel als Erscheinung 
rend die andere (normalerweise die linke), ohne daß wir ihr Auf- „Kugel” als „aufgehoben” in einer n + 1-Dimension gegenüber der 
merksamkeit zollen, den Bewegungen der anderen passiv folgt. Wir n-Dimension des Gegensatzpaares Licht-Nichtlicht. Wir können 
bemerken, daß die passive Hand auch die geringste Bewegungsaus- auch sagen: die Kugel als Erscheinung ist der Integralzustand des 
schläge der aktiven Hand spiegelverkehrt nachvollzieht, ohne Gegensatzpaares Kugel im Licht und Kugel im Dunkeln. Dieser 
Anstrengung und ganz von selbst. Diese Erscheinung hat ihren Versuch und sein Ergebnis liefert auch ein buchstäblich anschauba- 
Grund in der symmetrischen Bildung des rechts und links vom res und durch bloßes Hinsehen sich selbst erklärendes Modell für 
Rückenmarksstrang ausgehenden vegetativen Nervensystems, das das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Wenn wir nämlich das 
alle rechts oder links im Organismus stattfindenen Funktionen im Sehen der Kugel als „Subjekt”, die Kugel selbst als „Objekt” anset- 
Sinne einer bilateralen Blance in der Weise zum (synneurischen) zen, soist ihre Erscheinung als Erscheinung der Subjekt und Objekt 
Ausgleich bringt, wie wir es bei den Schreibbewegungen erfuhren. zur Funktionseinheit aufhebende Prozeß. Allerdings: Erscheinung 
Dabei aber ist dieses Rechts und Links nicht einfach dasselbe in als Erscheinung ist kein status: sondern ein Prozeß. Denn: warum 
Spiegelverkehrtheit, sondern die R.-L.-Symmetrie ist eine asymme- wird erst die verschattete Kugel als Kugel sichtbar? Warum die total 
trisch gespannte und prozessuale, derart, daß z. B. auch die beiden präsentierte nicht? Die Antwort ist so einfach wie folgenschwer: 
symmetrischen Hirnhälften verschiedene Funktionen erfüllen: bei Weil das Totalpräsente des Gegenstands (als Effekt schattenfreier 
den Wahrnehmungsprozessen „schaltet” die linke Seite mehr —Aushellung) dem Sehvermögen die Eigentätigkeit als Bedingung 
begrifflich, die rechte mehr bildhaft. seines Prozesses blockiert und paralysiert durch Vorwegnahme. 
Wir stellen uns nun, um den angesagten Selbstversuch zu vollen- Wir sprechen heute von „Perfektion” und lehnen sie ab ... gefühls- 
den, mit leichtgespreizten Beinen auf - etwa vor ein offenes Fenster mäßig und unter Berufung auf das Gefühl. Das aber ist kein wirk- 
oder im Freien, mit möglichst weitem Blickfeld. Breiten die Arme sames Argument, solange nicht das, was das Gefühl an der „Perfek- 
in Schulterhöhe aus, bis sie eine gerade Linie bilden. Jetzt ver- tion” vermißt, als biogenetischer Grundprozeß ausgewiesen ist. 
suchen wir, die rechte und die linke Hand gleichzeitig zu sehen. Wir Perfektion ist die Ausschaltung des Prozessualen physiologischer 
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