Rolf Peter Sieferle
„Heimat” war ursprünglich ein romantischer, d. h. ein gegenrevolu- und willkürlich neu konstruieren lassen. Die romantische Kultur-
tionärer Entwurf. Gegen das aufklärerische Programm der Verwirk- landschaft in ihrer Einheit von Siedlung und Natur illustriert somit
lichung einer universellen, allgemeingültigen Vernunft setzte die ein durch und durch konservatives Programm.
Romantik einen organischen Gegenentwurf, der von der Unwie- Ein Gefühl dafür, daß die „romantische” Kulturlandschaft, dieses
derholbarkeit des Individuellen her argumentierte. Jede konkrete Bild, dessen Schönheit und Harmonie das Versprechen einer ge-
Kultur trägt ihren eigenen Wert in sich, d. h. sie darf nicht nur als lungenen Versöhnung von Gesellschaft und Natur, von Indivi-
Abweichung von einer universellen Norm verstanden werden. Na- duum und Gemeinschaft enthalten sollte, aktuell bedroht war, wird
tur, Staat und Gesellschaft bilden einen gewachsenen Körper, der im Verlaufdes 19. Jahrhunderts immer stärker artikuliert. Die länd-
nicht in seine Bestandteile zerlegt werden kann, ohne daß das Le- liche Heimat beginnt, ihre Eigenart zu verlieren, der Universalis-
ben aus ihm entwieche. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner mus, der zur allgemeinen „Entzauberung” führt, zur Rationalisie-
Teile; Gewachsenes, Gewordenes, Historisches steht höher als Ge- rung der Lebenswelt, zur Bürokratisierung und zweckrationalen
machtes, Konstruiertes, also Mechanisches. Im Heimatbegriff Planifizierung, wird auch die Physiognomie der Landschaft verän-
drängt sich diese Konzeption bildhaft zusammen; Heimat ist der dern. Die Heimat ist von der modernen Gleichschaltung bedroht.
Wuschort, der für die Wirklichkeit des romantischen Programms Dieses Gefühl findet sich z. B. besonders deutlich in den Westfäli-
steht. schen Schilderungen der Annette von Droste-Hülshoffaus dem Jahre
Die Idee der Heimat beschwor ein utopisches Bild: den Drei- 1842. Sie beschreibt darin eine wahre Märchenlandschaft, eine inni-
klang von Volk, Natur und Individuum, eine organische Symbiose, ge Symbiose von Mensch und Natur, doch schließt sich dem ein dü-
die Wurzel jeder wahren und lebendigen Kultur sein sollte. „Natur” sterer Ausblick an:
wurde in diesem Zusammenhang als eine ganz bestimmte „Land- „So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren
schaft” aufgefaßt, die den eigentümlichen Lebensraum des Volkes nimmer sein. - Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse
bildete, das diese Landschaft als Kulturlandschaft geschaffen hatte und Industrie. Die kleinen malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des lang-
> Saar u sam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen
und dessen Wesen mit dieser Landschaft harmonisierte. Das Volk schnellern Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose
besitzt seine nationale Seele, seine eigentliche Identität in dieser Getreideseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch
Landschaft, ohne die es „entwurzelt” und verloren ist. Für den (tr hr %oehel das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf ehe die
Bauern besonders ist der Boden kein beliebiger Ort, kein bloßes schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt. auch diesen stillen Erdwinkel
Produktionsmittel, aus dem er seinen Ertrag gewinnt, sondern er ist Üüberleimt hat???
seine „Heimat”, ein Raum, der zu dem Selbst des Bauern untrenn- Das reale Substrat der Heimat, das, woran sich eine mögliche Iden-
bar gehört. Vergleichbar verhält es sich mit dem Handwerker, dem tität des Volkes oder der Nation orientieren könnte, wird sich verän-
städtischen Kleinbürger: Die Gemeinde ist ihm „Heimat” in dem dern. Die Möglichkeit, die Besonderheit des Nationalcharakters an
Sinne, daß sie nicht nur den materiellen Mittelpunkt seines Lebens der gewachsenen Eigenart der Kulturlandschaft, am Weichbild der
bildet, sondern zugleich das normative Zentrum bildet, von demer Städte und den regionalen Eigentümlichkeiten der Alltagskultur
die Maßstäbe seiner Existenzweise erhält: seine Ehre, seinen sozia- abzulesen, wird verschwinden. Die Homogenisierung durch Indu-
len Status, das Netz von Beziehungen, das seinem Leben Sinn ver- strie und Moderne wird alle Unterschiede abschleifen. Die völki-
leiht. sche Heimatutopie wird damit an Plausibilität verlieren: Land-
Dieser Begriff von „Heimat” oder auch „Volk” konnte nun im 19. schaft wird zum reinen Nutzraum, zur physischen Umwelt, doch
Jahrhundert, mit der vordringenden Industrialisierung und Moder- ihre magischen, sinnstiftenden Qualitäten wird sie verlieren.
nisierung; einen durchaus polemischen Sinn gewinnen. „Heimat” Dieser frühen Irritation lagen bereits im 19. Jahrhundert reale
und „Volk” werden zu Metaphern, die es erlauben, einen Zusam- Veränderungen zugrunde, die stichwortartig so zusammengefaßt
menhang zwischen den Erfahrungen der Naturzerstörung, des Tra- werden können:
ditionsverlustes, der sozialen Deklassierung und den neuen indu- ®Landwirtschaft. Im Zuge der Bauernbefreiung und der Durchset-
striegesellschaftlichen Verhaltenszumutungen herzustellen. „Hei- zung der „rationellen Landwirtschaft” kam es zu Gemeinheitstei-
mat” und „Volk” stehen daher für eine gelungene Vermittlung von lungen. Teile der Dorfgemarkung, die zuvor gemeinschaftlich be-
Individuum und Gemeinschaft, von Natur und Gesellschaft, von wirtschaftet wurden, wurden jetzt privatisiert und den einzelnen
Beschränktheit und Unendlichkeit, von Geschichte und Gegen- Wirtschaftseinheiten zugeschlagen. Da man gleichzeitig zu neuen
wart. Produktionsmethoden überging, wurde die Struktur der Felder um-
Gerade das Konzept der heimatlichen Landschaft als gewachse- gestaltet, was zum Teil durch behördliche Planungen beschleunigt
ner Kulturlandschaft wurde jetzt wichtig. Zur Heimat gehörten wurde („Verkoppelung”). Größere Feldeinheiten entstanden, Hek-
auch ihre Bewohner, ihre Dörfer und Städte, die Felder und Kanäle, ken und Gehölze fielen, Geometrie kam in die Landschaft. Wege
Wege und Brücken, Trachten und Feste. Die „Landschaft” ist im- wurden geradlinig angelegt, kreuzten sich in rechten Winkeln; die
mer „Heimat” eines „Volkes”; nur in dieser Verbindung wird der Grenzen von Feld und Wald wurden „rasiert”, Waldwiesen ver-
Heimatbegriff sinnvoll. Dahinter steckt der Impetus, in der organi- schwanden, Bäche wurden begradigt, in Rohre gelegt, Flüsse ge-
schen Konkretheit der Nadtr, die mit den menschlichen Artefakten staut und kanalisiert.
verschmolzen ist, eine Anschauung historisch-gewachsener Exi- ® Forstwirtschaft. Der große Holzmangel des 18. Jahrhunderts
stenzformen zu gewinnen, die sich immer auch gegen die mechani- führte zu großangelegten Versuchen, die Erträge der Wälder zu er-
sche Abstraktheit industrieller und gesellschaftsverändernder Pro- höhen. Zu diesem Zweck wurden die vielfachen bäuerlichen „Ne-
gramme wenden ließ. Die Harmonie der Kulturlandschaft, die or- bennutzungen” der Forsten abgelöst; der Wald verwandelte sich in
ganische Symbiose von Siedlung, Feld und Wald, werden zum einen „Holzacker”, der möglichst große Flächenerträge bringen
Sinnbild einer traditionellgeschlossenen Gesellschaftsordung. Die sollte. Zu diesem Zweck wurden vielfach Fichtenmonokulturen an-
in langen Zeiträumen gewordene Ordnung der bäuerlichen Land- gelegt, wurden unerwünschte Baumarten aus dem Wald ferngehal-
schaft, die verwunschene Schönheit der Häuser, die aussehen, als ten, wurden Feuchtgebiete drainiert und „Odflächen” aufgeforstet.
seien sie wie Bäume aus dem Boden gewachsen, belegen anschau- Der „deutsche Wald” wurde zunehmend von der „Wildnis” zur Pro-
lich. daß überkommene Verhältnisse sich nicht ungestraft zerlegen duktionsstätte von Holz.
ZN