AU DIESEM HER
LE CORBUSIER
Le Corbusiers Geburtstag wiederholt sich heuer zum 100sten
Mal. Das war — zugegeben - der erste Grund, ein Heft über ihn
zu machen. Solche Ehrungen bleiben aber, wie man weiß, selten
bloße Rituale, denn schon ein genauer Blick auf die ehrenwerte
Festgesellschaft führt meist schnell in tiefere, beunruhigende
Schichten. Diese Methode eignet sich doppelt gut beim Cente-
naire von Le Corbusier: In Deutschland findet er gar nicht erst
statt. Von Ausnahmen abgesehen (das wären, soviel wir sehen:
Ausstellung und Vorträge in Karlsruhe, angeregt von Paul
Schütz t; einige Vortráge an der bayrischen Architektenkammer
und die Ausstellung, die Thilo Hilpert für den BDA in Frankfurt
vorbereitet), von diesen Ausnahmen also abgesehen, schenken
sich Akademien und Kulturóffentlichkeit in Deutschland dieses
Datum. Dem Werk von Le Corbusier begegnet erst der Urlau-
ber, gleich nebenan in Straßburg oder Zürich, in Genf, in La
Caux-de-Fonds selbstverständlich und nicht viel weiter weg in
Marseille, Paris, Venedig, Mailand, London. In New York und
Tokyo wäre man auch dabei: Auf Hunderte von Ausstellungen
und Kongressen stößt der Weltreisende. Warum gebührt Le Cor-
busier in der Bundesrepublik nicht einmal ein Denkmal? Wositzt
der Stachel? Welches Eis soll nicht aufbrechen? Welche Erbrege-
lung wäre gefährdet?
In Deutschland sind eben „Bettong‘“, „Funktionalismus“,
glücklich überwunden, erst recht die „Charta von Athen“, die al-
les angestiftet hat. Der Schuldige ist bekannt, die Architekten ge-
winnen wieder Selbstvertrauen. Breit ist die Allianz der
Schadensabwickler. Vom Traditionalismus schon immer abge-
lehnt, fällt die Moderne auch noch der linken Selbstamputation
zum Opfer. Sie gilt, incl. der Aufklärung, wenn nicht schon im in-
nersten Kern infiziert (die „unterdrückte Linie des Konstrukti-
vismus seit kurzem ausgenommen, die unter der Überschrift „Vi-
sionen der Moderne“ vom DAM schon freigesprochen wurden;
Le Corbusier und Mies waren noch nicht dabei) wenigstens „in
ihrer kapitalistischen Anwendung“ als verabscheuungswürdig.
Das ist der realsozialistische Beitrag zur gemeinsamen deutschen
Geschichtsbewältigung.
Steht diese auf dem Spiel, wenn man Le Corbusier nochmal das
Wort läßt?
Es gibt international eine neue Generation von Architekten
und Forschern, die sich von Le Corbusier wieder neu angespro-
chen fühlt. Beiihnen steht nicht der Versuch im Vordergrund, Le
Corbusiers Werk im Ganzen anzusehen und im Zusammenhang
seiner Zeit zu würdigen, gleichsam zur Vergegenwärtigung
brauchbarer, stützender Vergangenheit, Aufgabe traditioneller
Baugeschichte, die sich an Le Corbusier sowieso nicht erfüllen
iáBt (vgl. Cohen), auch nicht die Interpretation der Einzelwerke
im Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang wie noch kurz
nach seinem Tod. Diese Einzelwerke, vornean die Villa Savoy,
sind lángst zu Kulturgütern kanonisiert und vom verbrauchten
Blick nicht mehr zu entkleiden. Stattdessen will man wieder in die
Mitte des architektonischen Entwurfsprozesses zurückkehren,
nicht Endergebnisse huldigen oder verreiBen: Le Corbusier fei-
ert man hóchstens indem man Gebrauch macht von ihm. Denn
noch ist sein Riesenwerk wie unbenutzt zwischen den schluBend-
lichen Typen. Nicht die Innensicht und die Herkünfte der Ele-
mente des Plan Voisin, der Ville Contemporaine etc. drángen da-
nach, neu erhellt zu werden, sondern die Organsiation der Indu-
striestadt — unser heutiges Problem - muB reflektiert werden. Un-
ter den inzwischen geánderten Bedingungen. Und nicht der Plan
Obus als Monument, sondern der Übergang vom architektoni-
schen Objekt als Element der Stadt zur Selbstproduktion von
Stadt nach der Zuordnungslogik des Bandes in einer planwirt-
schaftlichen Okonomie (Giordani?). Die Form für die getroffe-
nen Annahmen zu finden, das lehrt uns das Beispiel Le Corbu-
sier.
Um sich in diese Reprise einzuklinken, werden die Schriften
wieder gelesen, wird sich eingelassen auf seine Strategien Wirk-
lichkeit aufzubauen in den vielfältigen literarischen Animatio-
nen, die immer auch eine autonome literarische Form beanspru-
chen. Sicher werden dem Leser auch die metaphysischen Versu-
chungen des in seine Konstruktionen verliebten Konstrukteurs
nicht entgehen, sein Ausstieg nach vorn als kritische Haltung, die
ohne den Preis der Selbstentfremdung nicht zu haben ist. Die ist
nicht zu umgehen, wird nirgendwo bejammert. Stattdessen er-
klingt der LC Vorwärtston, in dem er alles, was vorkommt und
Auftrag werden könnte, meist unaufgefordert, seiner diesseiti-
gen Positivität und Habbarkeit unterzieht. Es ist immer das Her-
gestellte, das zählt, die Konstruktion, also etwas Geschichtliches!
Geschichte wird noch ängstlich, schwarzseherisch ungemut wei-
tergestrickt, und nie hält er sich lange an den Sackgassen der fer-
tigen „Werke“ auf, sie werden, wenn es sein muß, auch durch ihr
Gegenteil ersetzt. Aber folgerichtig stellt er seine eigenen Ver-
gangenheiten weiterführend dar, so werden die Pläne zum
„Plan“, zum Beitrag zur Avenue Geschichte, die man sich schwe-
bend vorzustellen hat, die nur Sinn und Richtung hat, wenn man
die eigenen Biografien hineinschreibt.
Le Corbusier lesen!, als Heilmittel gegen den Nostalgieton,
der das letzte Jahrzehnt geherrscht hat und gegen die Berau-
schungen, die eine Neoavantgarde wieder anbietet. Bestimmte
Fehler lassen sich vermeiden. Le Corbusiers Flirt mit der Techno-
kratie (Cohen), seinen Glauben an die Technologie als Trans-
portmittel in eine lichtvolle Zukunft teilte er mit anderen Intel-
lektuellen der Moderne (Le Corbusier"). Wie Gropius, Martin
Wagner und andere Reformer nahm er die mit der Vision und
Produktion des Standards notwendig einbergehende Zentralisa-
tion in Kauf, im Gegenteil, er begrüBte sie (anders war da F.L.
Wright). Welche Zentralisation und politisch-industrielle
Machtkonstellation war das aber, die sich nach der Weltwirt-
schaftskrise zusammenbraute? Die Vernunft als Autoritát des
Plans, der Fabrikherr, der Bolschewismus, Ludwig der XIV.,
von Le Corbusier allesamt angerufen, markieren die Verdrén-
gung oder den depressiven Blindflug einer ganzen Generation in
die Katastrophe. Die Modernisierung der Produktionsvorausset-
zungen und die Neuorganisierung des ,Stadt-Land-Verhältnis-
ses“ hatte dann unter Bedingungen von Naziherrschaft und Stali-
nismus unter grauenhaften ,Begleiterscheinungen" hóchst ef-
fektiv stattgefunden. Aber keiner der Reformplàne der Urbani-
sten der Moderne, die die räumliche Distribution der Produk-
tionsfaktoren in der Zeit von 1930 bis 1939 zum Gegenstand hat-
ten, seien sie von Martin Wagner für das Neue Berlin, von Frank
Lloyd Wright für Usonien oder von Le Corbusier generell für die
funktionelle Stadt, hat das reaihistorische Subjekt der Umgestal-
tung und die politischen Begleit- und Folgekosten je ernsthaft
einbezogen. Die Ville Radieuse organisierte lautlos, unpolitisch
autoritár, effektiv ásthetisierend, kurz: technokratisch. Heute
liest sich dieser Plan wie das Drehbuch für das Drama der faschi-
stischen Neukonstruktion der bürokratisch-industriellen Super-
systeme, dessen letzter Akt allerdings in Deutschland stattgefun-
en hat.
In diesem Trauma liegt wahrscheinlich ein Schlüssel zum Ver-
ständnis der Moderne Le Corbusiers und der Fortsetzungen der
Mißverständnisse zwischen Deutschlands und Frankreichs Ver-
treter (Nerdinger). In Frankreich waren andere Wendungen
möglich, überraschende, noch heute die Technokraten düpieren-
de Neuzusammensetzungen künstlerischer Art. Das geistreich
dadaistische Spiel der Re-Montage der Monumente der Stadt Pa-
ris erfolgte auf der Bühne des Daches von Herrn Beisteguy
(Reichlin). Die Negation der Stadt als Begrenzung des Blicks
schafft Raum für die Neuproduktion des Territoriums im Kopf.
Die Stahlgewitter bleiben zu Hause, der Krieg gegen die alte
Stadt findet auf dem Periskoptisch statt und nicht im Flächennut-
zungsplan.
Wir werden im nächsten Jahr, nach den Wiederannáherungen
an Le Corbusier, die uns der Centenaire gebracht haben wird, das
Thema fortführen. Wir bitten Leser und Autoren um Anregun-
gen und Zuschriften. Ich sagte es schon: Le Corbusier feiert man,
indem man von ihm Gebrauch macht. Aber noch steckt in der
Auseinandersetzung viel zu viel Universalität, viel zu wenig
Schule, mehr exegetisch philologischer als praktischer Umgang.
Giinther Uhlig , Nikolaus Kuhnert
Anmerkungen:
1) Der Text von Jean-Pierre Giordani wurde in Französisch geschrieben für den
Katalog der Ausstellung in Marseille: Le Corbusier etla Mediterranée. Wir dan-
ken den Herausgebern sehr herzlich.
2) Der Textentstammt dem raren Buche: Aircraft. The New Vision, London, New
York 1935. Bruno Reichlin hat uns darauf hingewiesen.
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