Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

pius 1925 das erste Bauhausbuch mit Bei- 
spielen aus der ganzen Welt dafür, wie aus 
gleichgerichtetem Gestaltungswillen, in 
Entsprechung zu den überall gleichen 
technischen Kräften, eine neue Architek- 
tur erwachse. 1927 publizierte Hilbersei- 
mer eine Art Fortsetzung unter dem Titel 
„Internationale Neue Baukunst“ und Phi- 
lip Johnson und Henry-Russell Hitchcock 
lieferten dann 1932 mit ihrer Publikation 
„International Style“ endgültig das 
Schlagwort, an dem bis heute die ganze 
moderne Architektur leidet, denn letzlich 
verengte sie sich dadurch auf einige forma- 
le Elemente wie Flachdach, kubische Ge- 
staltung oder Skelettkonstruktion. 
E ür die Kritiker der Moderne war ins- 
besondere diese angebliche Interna- 
tionalität das schlagende Argument für 
deren Geschichts- und Bindungslosigkeit. 
Gegen die international gleiche Architek- 
tur stellten die konservativen Kritiker die 
Vielfalt des heimat- und traditionsgebun- 
denen Bauens. Für die nationalistische 
Rechte wurde Internationalismus zum 
Synonym für Bolschewismus und Wurzel- 
losigkeit des Judentums im Gegensatz zur 
deutschen Blut- und Boden-Architektur. 
Alexander von Senger, einer der wider- 
wärtigsten NS-Propagandisten, diffamier- 
te deshalb auch speziell Le Corbusier als 
»Trojanisches Pferd des Bolschewismus“ 
und als ,Brandfackel Moskaus““; dafür 
erhielt er im übrigen den Lehrstuhl für 
Baugeschichte an der TH München. Inter- 
nationale Beliebigkeit und Wurzellosig- 
keit sind auch die Vorwürfe Paul Schmitt- 
henners gegen Le Corbusier, den das Par- 
teimitglied namentlich 1932 in seiner Pro- 
pagandaschrift „Das deutsche Wohn- 
haus“ angriff. Daß Schmitthenner 1952, 
kurz nach seiner Entnazifizierung, wieder 
ausgerechnet an Le Corbusiers Kirche in 
Ronchamp eine Abrechnung mit der Mo- 
derne betrieb, zeigt wo das konservative 
Bauen der Nachkriegszeit wieder einsetz- 
te. In direkter Parallele dazu steht der 
Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der in 
den 30er Jahren das „Bodenlose“ der Mo- 
derne verdammte und 1948 in seinem be- 
rüchtigten Buch „Verlust der Mitte“ am 
Beispiel der Architektur Le Corbusiers 
das aus seiner Sicht aufbrechende Chaos 
in einer bindungslosen Zeit diagnostizier- 
te. Peinlichkeiten und Gesinnung entspre- 
chen sich. 
Die moderne Kunst hat es nicht nötig, 
gegen derartige Angriffe verteidigt zu 
werden, aber das Schlagwort Internatio- 
nale Architektur, bzw. international style 
verdeckt bis heute nicht nur die Vielfalt 
der Auffassungen, sondern auch Positio- 
nen wie die von Le Corbusier und Bruno 
Taut, die einer internationalen Nivellie- 
rung konträr entgegenstanden. Schon 
Gropius grenzte für seine Ausstellung „In- 
ternationale Architektur“ 1923 die organi- 
sche Architekturrichtung mit Häring, Ra- 
ding oder Scharoun aus und verengte den 
Blick auf eine geometrisch-funktionale 
Formensprache. Die organisch-funktio- 
nale Form im Sinne Härings konnte in die- 
ser, später durch Sigfried Giedion kanoni- 
sierten Moderne nie Fuß fassen. Schon 
Mies van der Rohe erkannte allerdings, 
daß die organisch geschwungenen Kurven 
Härings letztlich genauso formalistisch 
sind wie geometrische Kuben. Er forderte 
deshalb, Bauten elementar aus ihren kon- 
struktiven Bedingungen heraus zu entwik- 
keln: „Eine Landschaft oder ein Wald be- 
steht auch nicht aus formal gleichen Gebil- 
den und ein Wachholderstrauch steht sehr 
gut zu einem Rosenstrauch. Wäre die Na- 
tur formal so langweilig wie unsere archi- 
tektonischen Gebilde, so wäre auch hier 
längst eine Revolution ausgebrochen".*? 
Diese Forderung von Mies nach architek- 
tonischer Vielfalt mutet heute paradox an, 
denn gerade seine Konzentration auf die 
Konstruktion führte entscheidend zur in- 
ternationalen Verengung der architekto- 
nischen Formensprache. 
Von den modernen Architekten in 
Deutschland wandte sich besonders Bru- 
no Taut gegen diese globale Vereinheitli- 
chung der Architektur gegen den ,,0den 
Schematismus des internationalen Schun- 
des“ und gegen die formalen AuBerlich- 
keiten, die sich wie ein , verdünnter Auf- 
guf5 über die ganze Welt ergieBen.* Bauen 
war für Taut ein Erzeugnis kollektiver und 
sozialer Gesinnung, er bezog sich also auf 
die Gesellschaft, deren Verschiedenartig- 
keit in allen Lándern zum Ausdruck kom- 
men sollte: „Ihre Zweckbestimmung wird 
das nordrussische Haus nicht etwa einem 
javanischen ähnlicher machen, sondern 
im Gegenteil ... die Erde soll reicher wer- 
den; denn in den Bauten, aus den Bauten 
spricht ihr Geist". Diese Auffassung hätte 
auch Le Corbusier geteilt, denn der von 
ihm gesuchte Standard ging von der Ent- 
wicklung einer Gesellschaft aus, er war die 
Resulatante aller ihrer Wirkkráfte. Hier 
liegt der entscheidende Unterschied zu 
den Funktionalisten aller Colours, von 
Gropius bis Häring und von Hannes Mey- 
er bis Mendelsohn, die nach einer optima- 
len Form für einen von Geschichte, Tradi- 
tion oder Nationalität abstrahierten Funk- 
tionsablauf suchten. 
Ein Grund zu Verwirrung und Mißver- 
ständnissen liegt nun darin, daß Le Corbu- 
sier aber mit seinen städtebaulichen Ideen 
und Projekten weitgehend die Ziele einer 
internationalen Architektur verfolgte. 
Besonders in den 30er und 40er Jahren 
wandte er die rigide Geometrie seiner ville 
radieuse golbal an, von Buenos Aires bis 
Moskau und von Bogota bis Algier. Im 
Kreis der CIAM-Architekten erschien Le 
Corbusier dadurch als der führende Kopf 
und ein Andersdenkender wie Hugo Hä- 
ring wurde schon 1928, im Gründungsjahr 
von CIAM, praktisch nach Hause ge- 
schickt.“ Häring, der schon 1925 gegen 
die ,,lebenserschôpfende““ und tôtende 
Geometrie von Le Corbusiers Städtebau 
geschrieben hatte, verfaßte darauf bissige 
Artikel gegen den „überlebten Le Corbu- 
sier“*, der die Menschen in seinen Hoch- 
háusern wie Heringe aufeinanderpresse, 
um große Grünflächen zwischen den Häu- 
sern zu bekommen. Auch Bruno Taut sah 
bezeichnenderweise keinen Platz für sich 
im CIAM-Kreis, deren städtebaulichen 
Internationalismus er verachtete: „Nach 
Meinung der maßgeblichen Verfasser ... 
soll die parallele Linierung von Norden 
nach Süden der Erdoberfläche ohne 
Rücksicht auf Berg und Tal, Fluß und 
Wald, Moos und Fels aufgepreßt wer- 
den.“ CIAM war für ihn deshalb „der 
Hofeines Königs, dessen Name Le Corbu- 
sier ist.“ Taut erkannte allerdings auch die 
Sonderstellung Le Corbusiers: „Sein For- 
malismus hat jedoch, da er aus der franzö- 
sischen Eleganz geboren ist, nicht viel mit 
Zeilenbau zu tun und gar nichts mit der 
Schulmeisterei, zu der eben der Formalis- 
mus in Deutschland werden muß.“ 
Die Sonderstellung Le Corbusiers zeigt 
sich aber nicht so sehr im Städtebau, son- 
dern bei seinen Entwürfen. Seine Suche 
nach einem Standard umfaßte nicht nur 
wie bei Taut die jeweilige Bautradition ei- 
nes Landes oder einer Region, sondern 
auch deren Geschichte. Wie kein anderer 
moderner Architekt im 20. Jahrhundert 
griff Le Corbusier auf die Architekturge- 
schichte zurück und integrierte oder trans- 
formierte charakteristische „Standard“- 
Lösungen in seine Entwürfe. So sind z.B. 
in Ronchamp die Grundformeln des 
christlichen Kirchenbaus, oder in La Tou- 
rette die Struktur der Ziesterzienserklö- 
ster ins 20. Jahrhundert übersetzt; im Par- 
lament von Chandigarh verschmilzt die 
technische Form eines Kühlturms mit der 
indischen Form des Jantar Mantar Obser- 
vatoriums zu einer neuen komplexen 
Symbolik für indische Demokratie.“ Die 
gesamte Nachkriegsarchitektur Le Cor- 
busiers könnte als Suche nach neuen Stan- 
dards für alle Bauaufgaben beschrieben 
werden, im größten Gegensatz zu Mies, 
der von der Kirche bis zum Museum und 
von der Hochschule bis zum Bürogebäude 
denselben Bautyp verwendete. 
D iese Integration von Geschichte und 
Region sowie die symbolische 
Überhöhung der Architektur führte schon 
Ende der 20er Jahre zu dem sog. Funktio- 
nalismus-Streit, bei dem letztlich wieder 
Le Corbusiers Auffassung vom Standard 
gegen die Konzeption des Typs, sei er nun 
aus der Funktion oder der Konstruktion 
entwickelt, stand. Schon an Le Corbusiers 
Stuttgarter Bauten hatte Hans Schmidt 
kritisiert, daß deren ästhetischer Genuß 
zu teuer erkauft sei. Diese Spannung ver- 
schärft sich, als Le Corbusier auf den 
CIAM-Treffen besonders gegenüber den 
deutschsprachigen Vertretern, die enor- 
me Bauvolumen und Bauerfahrung vor- 
weisen konnten, ins Hintertreffen ge- 
riet.^ Le Corbusier fühlte sich doppelt 
miBverstanden, denn einerseits hielten 
ihm seine Avantgarde-Kollegen sein eige- 
nes Schlagwort von der Wohnmaschine 
vor, andererseits verstanden sie nicht sei- 
ne Forderungen nach künstlerischer Ge- 
staltungsfreiheit. Schon 1928 kam es zu 
Reibereien und Le Corbusier begann ge- 
gen die ,,Slawen und Deutschen'?? zu po- 
lemisieren, aber erst sein Mundaneum- 
Entwurf führte zu offenem Streit. Der 
m.
	        

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