tschechische Architekturkritiker Karel
Teige machte sich zum Sprecher der funk-
tionalistisch-konstruktivistischen Grup-
pe, deren deutschsprachiges Zentrum die
Zeitschrift ABC mit Hannes Meyer, Mark
Stam und Hans Schmidt bildete. Teige
klagte Le Corbusier an, daß er seinen eige-
nen Begriff Wohnmaschine „durch Zufü-
gung von so undeutlichen Attributen wie
Würde, Harmonie, architektonisches Po-
tential, entwertet^" habe, um sich dem
Asthetizismus und Akademismus in die
Arme zu werfen. Die schneckenförmig ge-
wundene Zikkurat des Musée Mondial si-
gnalisierte für Teige nicht nur die Wieder-
kehr der besonders von der ABC-Gruppe
bekampften Monumentalitit, sondern
auch der historischen Form und damit je-
ner Form von „Architektur“, die durch
den Begriff „Bauen“ abgelöst werden soll-
te.
Auf dem Historismus- und Monumen-
talismus-Vorwurf ging Le Corbusier in
seiner Antwort , Défense de l'architectu-
re^?" nicht ein, aber den konstruktivi-
stisch-funktionalen Baubegriff lehnte er
ab: „Die Avantgarde der ‚Neuen Sach-
lichkeit’ hat zwei Wörter ausgerottet: ‚Ar-
chitektur und Kunst’ und sie ersetzt durch
,Bauen' und ,Leben'*. Diese Rückkehr zu
elementaren Begriffen habe auch er in
L'Esprit Nouveau 1920 betrieben, aber
nicht, um ,,dort zu verharren, sondern um
wieder festen Fuß zu fassen“, denn die Ar-
chitektur beginne erst dort, „wo die Ma-
schine aufhórt".? Es genüge nicht, Be-
dürfnisse zu befriedigen, sondern er wolle
Gedichte, allerdings „in festen Worten“
schaffen, Architektur ist für ihn Ordnung
erzeugen im Sinne von Komponieren, ist
eine lyrische, gefühlvolle Angelegenheit
und diese Suche nach einer Wirkung auf
den ganzen Menschen beinhalte auch die
Einbeziehung von Geschichte, Tradition
und Nation. Die rigorose Ordnung der
Neuen Sachlichkeit*, die ihre Bauten nur
nach technischen, funktionalen oder so-
zialen Gesichtspunkten ausrichtete, stell-
te für ihn dagegen eine typisch deutsche
.PolizeimaBnahme* dar. Le Corbusier
hat damit den Verordnungscharakter
funktionalistischer Architektur áhnlich
aufgedeckt wie Adolf Behne, der z.B. am
Zeilenbau kritisiert hatte, daB der Mensch
zum Wohnen nach Westen und Schlafen
nach Osten gezwungen werde, da die
Orientierung zur Sonne gesund und rich-
tig sei. Auf seine Weise wollte aber natür-
lich auch Le Corbusier die Menschheit
durch Architektur zu ihrem Glück zwin-
gen, die schárfste Kritik erhielt er dafür
von seinem Landsmann Pierre Francastel:
„In der von Le Corbusier ertráumten Welt
werden Freude und Sauberkeit Pflicht
sein … Ist sich Le Corbusier im klaren, da8
man Buchenwald zum Klang von Geigen
betritt?“
Le Corbusier leugnete natürlich keines-
wegs die sozialen, technischen und wirt-
schaftlichen Grundlagen des Neuen Bau-
ens, aber er ließ sich gestalterisch nicht
von ihnen determinieren, oder durch Ra-
tionalisierungsmaßnahmen einengen wie
das seinen deutschsprachigen Kollegen
häufig passierte. Er nahm für sich immer
das Recht in Anspruch, diese Zwänge so-
weit nötig als „anarchischer“ Künstler bei-
seitezustellen. Und genauso wie er zwi-
schen Form und Wirtschaftlichkeit trenn-
te, so hielt er auch bei den folgenden
CIAM-Kongressen Konstruktion und
Nutzung sowie Technik und Politik strikt
auseinander. Gegenüber den Vertretern
einer Politisierung und konstruktiv-funk-
tionalen Determinierung des Bauens wie
Meyer, Stam, May oder Schmidt befand
sich Le Corbusier in diesen Jahren in der
Defensive. Als diese Gruppe jedoch ab
1930 weitgehend in die Sowjetunion über-
siedelte, wurde Le Corbusier immer do-
minierender und 1933 konnte er trium-
phierend erklären, daß sich sein Konzept
der ville radieuse durchgesetzt habe und
schon bei der Vorbereitung für die näch-
sten Kongresse zeigte sich, daß er das Feld
beherrschte. Verärgert schrieb Gropius
an Giedion: „Mit der französischen Grup-
pe läuft es gerade so wie ich dachte; sie
kümmern sich einen Dreck um alles was
wir beschlossen haben und spielen nur
Corbusier ... man kann nicht bei der Kon-
greßarbeit über große Fragen wie nament-
lich die ökonomischen in Bausch und Bo-
gen mit großer Geste hin(weg)gehen ... er
ist nur theoretisch sozial - aber nicht in der
Praxis“.™ Diese Überlegung kam reich-
lich zu spát, denn seit 1933 existierte keine
deutsche Moderne mehr und eine Ausein-
andersetzung fand in Deutschland nicht
mehr statt. Der soziale Ansatz des Neuen
Bauens ging verloren, aber die Kunst Le
Corbusiers wurde dafür nicht einge-
tauscht.
Eine Betrachtung des Verhältnisses
zwischen Le Corbusier und den deutschen
Architekten der Nachkriegszeit wáre nun
ein eigener Vortrag. Es sei nur darauf hin-
gewiesen, daB die Mainz-Planung von
Marcel Lodz nach dem Vorbild von Le
Corbusiers Projekt für St. Dié schnell
scheiterte und daß auch der einzige Bau
Le Corbusiers im Deutschland der Nach-
kriegszeit, die Unite in Berlin, symboli-
scherweise durch „Polizeimaßnahmen“
ein Torso blieb. Während die Stuttgarter
Bauten zwar kontrovers diskutiert wur-
den, aber doch in die deutsche Moderne
eingebettet waren, entstand wahrend der
Interbau im Hansaviertel in Berlin, weit
abseits am Olympiastadion, ein Wohn-
block, den die Behörden und Bauträger
aus Borniertheit und Profitgier verhunz-
ten. Ein Vorgang, nicht nur bezeichnend
für den Zwiespalt Le Corbusiers mit
Deutschland, sondern auch kennzeich-
nend für die deutsche Nachkriegsarchitek-
tur.
Anmerkungen
1) Briefan L'Eplattenier vom 16.4.1910in der Fonda-
tion Le Corbusier (im folgenden FLC) dort auch die
beiden nächsten Zitate
2) vgl. H. Allen Brooks, Jeanneret und Sitte: Le Cor-
busier’s Earliest Ideas on Urban Design, in: Helen
Searing (Hrsg.) In Search of Modern Architecture: A
Tribute to Henry-Russell Hitchcock, Cambridge/
Mass. 1982, S.278-297
3) Brief an L'Eplattenier vom 1.10.1910, FLC
4) Ch.-E. Jeanneret, Etude sur le mouvement d'art
décoratif en Allemagne, La Chaux-de-Fonds 1912,
S.49 ff. dort auch die náchsten Zitate, S.52 und S.74
5) vgl. Winfried Nerdinger, Richard Riemerschmid -
Vom Jugendstil zum Werkbund, München 1982
6) vgl. Paul Venable Turner, The Education of Le
Corbusier, New York & London 1977, S.83 ff.
7) Eleanor Gregh, The Dom-ino Idea, in: Opposi-
tions NR. 15/16 Winter/Spring 1979, S.61-87
8) LeCorbusier-Saugnier, Curiosité — non: Anoma-
lie!, in: Esprit Nouveau Nr. 9, Juni 1921, S.1017
9) bgl. dazu Brooks (Anm.2)
10) vgl. Winfried Nerdinger, Der Architekt Walter
Groptus, Berlin 1985, S.34 f. , 40 f.
11) vgl. Karl-Heinz Hüter, Das Bauhaus in Weimar,
Berlin 1976, S. 129 f., Zitat S. 130
12) vgl. Brief von Gropius an Ekart (d.i. Adolf Beh-
ne) vom 25.4.1921 im Bauhaus Archiv Berlin (BHA)
Sign. 10/137; Gropius schreibt zwar, er habe eine deut-
sche Ausgabe bei einem Verlag befürwortet, er konn-
te jedoch ebensowenig wie Schlemmer die Hefte le-
sen. 1924 übersetzte ihm seine Frau Ise aus Vers une
architecture (vgl. deren Tagebuch im Bauhaus-Ar-
chiv); erst zu diesem Zeitpunkt findet eine wirkliche
Auseinandersetzung statt.
13) Adolf Behne, Junge franzósische Architektur, in:
Sozialistische Monatshefte 1922, S. 512 ff.; Paul West-
heim, Architektur in Frankreich, Le Corbusier-Saug-
nier, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 7. Jg.
1922/23, S.69 ff.
14) Korrespondenz Hans und Lily Hildebrandt mit
Gropius und Schlemmer im Getty-Museum, Malibu
(frdl. Hinweis M. Droste) vgl. bes. die Briefe vom
26.10.1921, 1.12.1921 und 15.12.1922
15) vgl. Hüter (Anm. 11), S.139
16) W. Gropius, Wohnmaschine, Manuskript im
BHA
13 vgl. Nerdinger (Anm. 10) S.58f., 232 f.
18) Bruno Taut, Die neue Baukunst in Europa und
Amerika, Berlin 1929, S.4
19) Hans Poelzig, Der Architekt, Nachdruck Berlin
1986, S.13 ff.
20) vgl. Briefwechsel Ginsburger-Riezler. in: Die
Form 1931, S.431-437
21) vgl. Le Corbusier, Croisade on Le crépuscule des
académies, Paris 1933, S.46
22) Brief von Gropius an Mies van der Rohe vom
4.6.1923 mit der Einladung zur Ausstellungsteilnahme
im BHA
23) Vier Originalblitter mit Skizzen und Texten von
Le Corbusier sowie Briefe vom 30.7. und 4.8.1923 im
BHA
Fortsetzung auf S. 97
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