Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

tschechische Architekturkritiker Karel 
Teige machte sich zum Sprecher der funk- 
tionalistisch-konstruktivistischen Grup- 
pe, deren deutschsprachiges Zentrum die 
Zeitschrift ABC mit Hannes Meyer, Mark 
Stam und Hans Schmidt bildete. Teige 
klagte Le Corbusier an, daß er seinen eige- 
nen Begriff Wohnmaschine „durch Zufü- 
gung von so undeutlichen Attributen wie 
Würde, Harmonie, architektonisches Po- 
tential, entwertet^" habe, um sich dem 
Asthetizismus und Akademismus in die 
Arme zu werfen. Die schneckenförmig ge- 
wundene Zikkurat des Musée Mondial si- 
gnalisierte für Teige nicht nur die Wieder- 
kehr der besonders von der ABC-Gruppe 
bekampften Monumentalitit, sondern 
auch der historischen Form und damit je- 
ner Form von „Architektur“, die durch 
den Begriff „Bauen“ abgelöst werden soll- 
te. 
Auf dem Historismus- und Monumen- 
talismus-Vorwurf ging Le Corbusier in 
seiner Antwort , Défense de l'architectu- 
re^?" nicht ein, aber den konstruktivi- 
stisch-funktionalen Baubegriff lehnte er 
ab: „Die Avantgarde der ‚Neuen Sach- 
lichkeit’ hat zwei Wörter ausgerottet: ‚Ar- 
chitektur und Kunst’ und sie ersetzt durch 
,Bauen' und ,Leben'*. Diese Rückkehr zu 
elementaren Begriffen habe auch er in 
L'Esprit Nouveau 1920 betrieben, aber 
nicht, um ,,dort zu verharren, sondern um 
wieder festen Fuß zu fassen“, denn die Ar- 
chitektur beginne erst dort, „wo die Ma- 
schine aufhórt".? Es genüge nicht, Be- 
dürfnisse zu befriedigen, sondern er wolle 
Gedichte, allerdings „in festen Worten“ 
schaffen, Architektur ist für ihn Ordnung 
erzeugen im Sinne von Komponieren, ist 
eine lyrische, gefühlvolle Angelegenheit 
und diese Suche nach einer Wirkung auf 
den ganzen Menschen beinhalte auch die 
Einbeziehung von Geschichte, Tradition 
und Nation. Die rigorose Ordnung der 
Neuen Sachlichkeit*, die ihre Bauten nur 
nach technischen, funktionalen oder so- 
zialen Gesichtspunkten ausrichtete, stell- 
te für ihn dagegen eine typisch deutsche 
.PolizeimaBnahme* dar. Le Corbusier 
hat damit den Verordnungscharakter 
funktionalistischer Architektur áhnlich 
aufgedeckt wie Adolf Behne, der z.B. am 
Zeilenbau kritisiert hatte, daB der Mensch 
zum Wohnen nach Westen und Schlafen 
nach Osten gezwungen werde, da die 
Orientierung zur Sonne gesund und rich- 
tig sei. Auf seine Weise wollte aber natür- 
lich auch Le Corbusier die Menschheit 
durch Architektur zu ihrem Glück zwin- 
gen, die schárfste Kritik erhielt er dafür 
von seinem Landsmann Pierre Francastel: 
„In der von Le Corbusier ertráumten Welt 
werden Freude und Sauberkeit Pflicht 
sein … Ist sich Le Corbusier im klaren, da8 
man Buchenwald zum Klang von Geigen 
betritt?“ 
Le Corbusier leugnete natürlich keines- 
wegs die sozialen, technischen und wirt- 
schaftlichen Grundlagen des Neuen Bau- 
ens, aber er ließ sich gestalterisch nicht 
von ihnen determinieren, oder durch Ra- 
tionalisierungsmaßnahmen einengen wie 
das seinen deutschsprachigen Kollegen 
häufig passierte. Er nahm für sich immer 
das Recht in Anspruch, diese Zwänge so- 
weit nötig als „anarchischer“ Künstler bei- 
seitezustellen. Und genauso wie er zwi- 
schen Form und Wirtschaftlichkeit trenn- 
te, so hielt er auch bei den folgenden 
CIAM-Kongressen Konstruktion und 
Nutzung sowie Technik und Politik strikt 
auseinander. Gegenüber den Vertretern 
einer Politisierung und konstruktiv-funk- 
tionalen Determinierung des Bauens wie 
Meyer, Stam, May oder Schmidt befand 
sich Le Corbusier in diesen Jahren in der 
Defensive. Als diese Gruppe jedoch ab 
1930 weitgehend in die Sowjetunion über- 
siedelte, wurde Le Corbusier immer do- 
minierender und 1933 konnte er trium- 
phierend erklären, daß sich sein Konzept 
der ville radieuse durchgesetzt habe und 
schon bei der Vorbereitung für die näch- 
sten Kongresse zeigte sich, daß er das Feld 
beherrschte. Verärgert schrieb Gropius 
an Giedion: „Mit der französischen Grup- 
pe läuft es gerade so wie ich dachte; sie 
kümmern sich einen Dreck um alles was 
wir beschlossen haben und spielen nur 
Corbusier ... man kann nicht bei der Kon- 
greßarbeit über große Fragen wie nament- 
lich die ökonomischen in Bausch und Bo- 
gen mit großer Geste hin(weg)gehen ... er 
ist nur theoretisch sozial - aber nicht in der 
Praxis“.™ Diese Überlegung kam reich- 
lich zu spát, denn seit 1933 existierte keine 
deutsche Moderne mehr und eine Ausein- 
andersetzung fand in Deutschland nicht 
mehr statt. Der soziale Ansatz des Neuen 
Bauens ging verloren, aber die Kunst Le 
Corbusiers wurde dafür nicht einge- 
tauscht. 
Eine Betrachtung des Verhältnisses 
zwischen Le Corbusier und den deutschen 
Architekten der Nachkriegszeit wáre nun 
ein eigener Vortrag. Es sei nur darauf hin- 
gewiesen, daB die Mainz-Planung von 
Marcel Lodz nach dem Vorbild von Le 
Corbusiers Projekt für St. Dié schnell 
scheiterte und daß auch der einzige Bau 
Le Corbusiers im Deutschland der Nach- 
kriegszeit, die Unite in Berlin, symboli- 
scherweise durch „Polizeimaßnahmen“ 
ein Torso blieb. Während die Stuttgarter 
Bauten zwar kontrovers diskutiert wur- 
den, aber doch in die deutsche Moderne 
eingebettet waren, entstand wahrend der 
Interbau im Hansaviertel in Berlin, weit 
abseits am Olympiastadion, ein Wohn- 
block, den die Behörden und Bauträger 
aus Borniertheit und Profitgier verhunz- 
ten. Ein Vorgang, nicht nur bezeichnend 
für den Zwiespalt Le Corbusiers mit 
Deutschland, sondern auch kennzeich- 
nend für die deutsche Nachkriegsarchitek- 
tur. 
Anmerkungen 
1) Briefan L'Eplattenier vom 16.4.1910in der Fonda- 
tion Le Corbusier (im folgenden FLC) dort auch die 
beiden nächsten Zitate 
2) vgl. H. Allen Brooks, Jeanneret und Sitte: Le Cor- 
busier’s Earliest Ideas on Urban Design, in: Helen 
Searing (Hrsg.) In Search of Modern Architecture: A 
Tribute to Henry-Russell Hitchcock, Cambridge/ 
Mass. 1982, S.278-297 
3) Brief an L'Eplattenier vom 1.10.1910, FLC 
4) Ch.-E. Jeanneret, Etude sur le mouvement d'art 
décoratif en Allemagne, La Chaux-de-Fonds 1912, 
S.49 ff. dort auch die náchsten Zitate, S.52 und S.74 
5) vgl. Winfried Nerdinger, Richard Riemerschmid - 
Vom Jugendstil zum Werkbund, München 1982 
6) vgl. Paul Venable Turner, The Education of Le 
Corbusier, New York & London 1977, S.83 ff. 
7) Eleanor Gregh, The Dom-ino Idea, in: Opposi- 
tions NR. 15/16 Winter/Spring 1979, S.61-87 
8) LeCorbusier-Saugnier, Curiosité — non: Anoma- 
lie!, in: Esprit Nouveau Nr. 9, Juni 1921, S.1017 
9) bgl. dazu Brooks (Anm.2) 
10) vgl. Winfried Nerdinger, Der Architekt Walter 
Groptus, Berlin 1985, S.34 f. , 40 f. 
11) vgl. Karl-Heinz Hüter, Das Bauhaus in Weimar, 
Berlin 1976, S. 129 f., Zitat S. 130 
12) vgl. Brief von Gropius an Ekart (d.i. Adolf Beh- 
ne) vom 25.4.1921 im Bauhaus Archiv Berlin (BHA) 
Sign. 10/137; Gropius schreibt zwar, er habe eine deut- 
sche Ausgabe bei einem Verlag befürwortet, er konn- 
te jedoch ebensowenig wie Schlemmer die Hefte le- 
sen. 1924 übersetzte ihm seine Frau Ise aus Vers une 
architecture (vgl. deren Tagebuch im Bauhaus-Ar- 
chiv); erst zu diesem Zeitpunkt findet eine wirkliche 
Auseinandersetzung statt. 
13) Adolf Behne, Junge franzósische Architektur, in: 
Sozialistische Monatshefte 1922, S. 512 ff.; Paul West- 
heim, Architektur in Frankreich, Le Corbusier-Saug- 
nier, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 7. Jg. 
1922/23, S.69 ff. 
14) Korrespondenz Hans und Lily Hildebrandt mit 
Gropius und Schlemmer im Getty-Museum, Malibu 
(frdl. Hinweis M. Droste) vgl. bes. die Briefe vom 
26.10.1921, 1.12.1921 und 15.12.1922 
15) vgl. Hüter (Anm. 11), S.139 
16) W. Gropius, Wohnmaschine, Manuskript im 
BHA 
13 vgl. Nerdinger (Anm. 10) S.58f., 232 f. 
18) Bruno Taut, Die neue Baukunst in Europa und 
Amerika, Berlin 1929, S.4 
19) Hans Poelzig, Der Architekt, Nachdruck Berlin 
1986, S.13 ff. 
20) vgl. Briefwechsel Ginsburger-Riezler. in: Die 
Form 1931, S.431-437 
21) vgl. Le Corbusier, Croisade on Le crépuscule des 
académies, Paris 1933, S.46 
22) Brief von Gropius an Mies van der Rohe vom 
4.6.1923 mit der Einladung zur Ausstellungsteilnahme 
im BHA 
23) Vier Originalblitter mit Skizzen und Texten von 
Le Corbusier sowie Briefe vom 30.7. und 4.8.1923 im 
BHA 
Fortsetzung auf S. 97 
24,
	        

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