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tekten allenfalls als „Grundrisse“
und „Ansichten“ entschlüsseln,
nicht aber in komplexe räumliche
Situationen umdenken. Die Ver-
mutung liegt also nahe, daß zu-
mindest die „stijl-typischsten“
Architekturen einem „Denken
in der Fläche“ zu verdanken sind.
Auch van Doesburgs Favorisie-
rung der axonometrischen Dar-
stellung erklärt sich aus deren Ei-
genschaft, den Eindruck recht-
winkliger Flächen zu verstärken
und dadurch die „Objektivität“
eines Entwurfs zu demonstrie-
ren.
Theo van Doesburg und Corne-
lis van Eesteren: „Maison parti-
culiere (1923)
Die groBe De Stijl-Ausstellung
1923 in Paris sollte einer breiten
Öffentlichkeit in Zeichnungen
und Modellen erste Ergebnisse
präsentieren, die durch die Über-
tragung bildnerischer Prinzipien
auf die Architektur zustandege-
kommen waren. Im Zentrum der
Ausstellung standen drei pro-
grammatische Entwürfe, die van
Doesburg zusammen mit dem
Architekten Cornelis van Eeste-
ren erarbeitet hatte: Haus Ro-
senberg, Maison particuliere und
Maison d’artiste. Diese Projekte
müssen zugleich als grundlegend
angesehen werden für die Festle-
gung der Stijl-Architektur, die
ein Jahr später in van Doesburgs
16-Punkte-Programm „Auf dem
Weg zu einer plastischen Archi-
tektur“ vorgenommen wurde.
Unter den in Paris gezeigten
Architekturprojekten ist das
„Maison particuliere“ der am
ausführlichsten ausgearbeitete
Entwurf gewesen. Es handelt
sich hierbei um ein freistehendes
Wohnhaus mit großzügigen
Nutzflächen, Wohnraum für Per-
sonal, sowie einem Gymnastik-
saal in der zweiten Etage, umge-
ben von drei Dachterrassen. Das
geradezu „großbürgerliche“
Raumprogramm verteilt sich auf
drei getrennten, nicht miteinan-
der in Beziehung . gebrachten
Wohnebenen. Dieser konventio-
nellen ,,GrundriBkonzeption in
einer Fláche* korrespondiert ei-
ne keineswegs konventionelle
Raumaufteilung innerhalb der
Ebenen. In der ersten Etage voll-
führen die Wohnbezirke sogar ei-
ne Art ,kreisende Bewegung"
um den Mittelpunkt des Trep-
penhauses, wobei die einzelnen
Räume ihre geschlossene Gestalt
verlieren und sich in selbstándige
Wandscheiben aufzulósen begin-
nen.
Trotz dieser tendenziellen
Verabschiedung des geschlosse-
nen Grundrisses hat Mondrian,
der 1925 den De Stijl verlieB, sich
skeptisch gegenüber den Ent-
würfen van Doesburgs und van
Eesterens geäußert, weil ihm die
Wohnflächen noch zu unfrei um
einen Kern organisiert schienen.
Tatsächlich war es Mies van der
Theo van Does-
burg und Cornelius
van Eesteren, Mai-
son particuliere,
1923. Grundriß
l. Etage
Rohe vorbehalten, aus der Not
des „Flächendenkens“ die reine
Tugend eines radikal geöffneten
Grundrisses zu machen. In sei-
nem Projekt für ein Landhaus
aus Backstein, das aus dem glei-
chen Jahr stammt wie das „Mai-
son particulière“, entwickelte
Mies die Konzeption eines Fließ-
raumes, der, ohne zwischen In-
nen- und Außenbereichen zu un-
terscheiden, die nähere Umge-
bung des Landhauses mit in die
architektonische Raumvorstel-
lung einbegreift. Mies vollstreck-
te auf diese Weise nicht nur eine
Tendenz, die sich schon im Werk
F. L. Wrights angedeutet hatte,
sondern er münzte auch architek-
tonisch um, was Mondrian in sei-
nen Bildern als „gleichwertige
Raumauflósung* verstanden
wissen wollte.
Bei den Entwürfen für die Pa-
riser Stijl- Ausstellung ging es van
Doesburg auch um die Prásenta-
tion bestimmter Darstellungsfor-
men, mit denen er die Qualitáten
der neuen plastischen Architek-
tur adäquat zum Ausdruck brin-
gen wollte. Seine und van Eeste-
Die Wohnräume
sind noch streng um
das Treppenhaus
formiert, beginnen
sich aber schon zu-
einander zu öffnen
rens Projekte verzichten auf den
individuellen Blickpunkt, wel
chen die Perspektive imaginiert,
sie verzichten auch auf Schnitte
und werden stattdessen über-
reichlich mit Axonometrien und
einer — darstellungstechnischen
Neuentwicklung van Doesburgs.
die ,Kontra-Konstruktion", er-
láutert. Letztere ist von den Axo-
nometrien abgeleitet und stellt
unabhángig von funktionalen
und statischen Gegebenheiten
das ásthetische Verfahren der
Zerlegung, Aneinanderfügung
und Durchdringung der architek-
tonischen Fláchen dar. Unter
stützt wird die ästhetische Inter
pretation der Architektur. wel
Theo van Does-
burg, Komposition.
1925
Der Einzug der „ar-
chitektonischen
Diagonalen" in die
neo-plastische
Kunst
che die Kontra-Konstruktionen
vornehmen, zudem durch van
Doesburgs Farbkonzept. Die
Farbe hat in der Stijl-Architektur
die bedeutende Aufgabe, „das
Gleichgewicht organischer Be-
ziehungen sichtbare Realität“
werden zu lassen. Mit anderen
Worten: die Farbgebung sollte
kompositorisch die konstruktive
„Gewichtung“ der architektoni-
schen Formen, Flächen und Vo-
lumen veranschaulichen. Zu-
sammen mit dem Farbkonzept
bezeichnen die Kontra-Kon-
struktionen den wichtigen Be-
reich. in dem bildnerische und ar-
chitektonische Uberlegungen zu-
sammenflieBen. Das Ergebnis
solcher Synthese hatte auch wie-
der Auswirkungen auf die Male-
rei des De Stijl. Nach 1923 führte
van Doesburg in seine Bilder die
„dynamische Diagonale“ ein, die
als direktes Zitat des räumlich-
diagonalen Aspekts der Kontra-
Konstruktionen verstanden wer-
den muß.
Zusammenfassend läßt sich sa-
gen, daß es dem De Stijlin Ansät-
zen gelungen ist, eine gemeinsa-
me ästhetische Basis für die
zweckfreie und zweckgebundene
Gestaltung bereitzustellen.
Nicht zuletzt das „Maison parti-
culiere“ ist ein Beweis dafür, was
es heißt, die bildenden Künste in
ihrer „elementarsten Erschei-
nung“ in der Architektur zusam-
menzufassen. Die These bietet
sich an: daß erst seit den Experi-
menten des De Stijl die bilden-
den Künste und die Architektur
nicht nur mehr miteinander
„kombiniert“, sondern unmittel-
bar durch gleiche ästhetische
Verfahren einander anverwan-
delt werden können. Indes ist ei-
ne wesentliche Forderung der De
Stijl-Künstler notwendig zum
Scheitern verurteilt gewesen: die
Versöhnung von Kunst und Le-
ben. Resigniert gegenüber den
Gefahren, die dem Projekt der
Avantgardebewegungen von
Seiten des Kunstgewerbes und
Designs drohen, schrieb Theo
van Doesburg am 7. November
1928 an Adolf Behne: „Das Pu-
blium will in der Scheiße leben
und muß in der Scheiße sterben.
(...) Beständige Werte werden
nur von einer hundertprozenti-
gen Kunst geschaffen. Das ist
jetzt meine feste Überzeugung.
Die Architektur ist ein falscher
Weg, wie die angewandte
Kunst.“
Gerd de Bruvn