Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1987, Jg. 20, H. 88-92)

N 
tekten allenfalls als „Grundrisse“ 
und „Ansichten“ entschlüsseln, 
nicht aber in komplexe räumliche 
Situationen umdenken. Die Ver- 
mutung liegt also nahe, daß zu- 
mindest die „stijl-typischsten“ 
Architekturen einem „Denken 
in der Fläche“ zu verdanken sind. 
Auch van Doesburgs Favorisie- 
rung der axonometrischen Dar- 
stellung erklärt sich aus deren Ei- 
genschaft, den Eindruck recht- 
winkliger Flächen zu verstärken 
und dadurch die „Objektivität“ 
eines Entwurfs zu demonstrie- 
ren. 
Theo van Doesburg und Corne- 
lis van Eesteren: „Maison parti- 
culiere (1923) 
Die groBe De Stijl-Ausstellung 
1923 in Paris sollte einer breiten 
Öffentlichkeit in Zeichnungen 
und Modellen erste Ergebnisse 
präsentieren, die durch die Über- 
tragung bildnerischer Prinzipien 
auf die Architektur zustandege- 
kommen waren. Im Zentrum der 
Ausstellung standen drei pro- 
grammatische Entwürfe, die van 
Doesburg zusammen mit dem 
Architekten Cornelis van Eeste- 
ren erarbeitet hatte: Haus Ro- 
senberg, Maison particuliere und 
Maison d’artiste. Diese Projekte 
müssen zugleich als grundlegend 
angesehen werden für die Festle- 
gung der Stijl-Architektur, die 
ein Jahr später in van Doesburgs 
16-Punkte-Programm „Auf dem 
Weg zu einer plastischen Archi- 
tektur“ vorgenommen wurde. 
Unter den in Paris gezeigten 
Architekturprojekten ist das 
„Maison particuliere“ der am 
ausführlichsten ausgearbeitete 
Entwurf gewesen. Es handelt 
sich hierbei um ein freistehendes 
Wohnhaus mit großzügigen 
Nutzflächen, Wohnraum für Per- 
sonal, sowie einem Gymnastik- 
saal in der zweiten Etage, umge- 
ben von drei Dachterrassen. Das 
geradezu „großbürgerliche“ 
Raumprogramm verteilt sich auf 
drei getrennten, nicht miteinan- 
der in Beziehung . gebrachten 
Wohnebenen. Dieser konventio- 
nellen ,,GrundriBkonzeption in 
einer Fláche* korrespondiert ei- 
ne keineswegs konventionelle 
Raumaufteilung innerhalb der 
Ebenen. In der ersten Etage voll- 
führen die Wohnbezirke sogar ei- 
ne Art ,kreisende Bewegung" 
um den Mittelpunkt des Trep- 
penhauses, wobei die einzelnen 
Räume ihre geschlossene Gestalt 
verlieren und sich in selbstándige 
Wandscheiben aufzulósen begin- 
nen. 
Trotz dieser tendenziellen 
Verabschiedung des geschlosse- 
nen Grundrisses hat Mondrian, 
der 1925 den De Stijl verlieB, sich 
skeptisch gegenüber den Ent- 
würfen van Doesburgs und van 
Eesterens geäußert, weil ihm die 
Wohnflächen noch zu unfrei um 
einen Kern organisiert schienen. 
Tatsächlich war es Mies van der 
Theo van Does- 
burg und Cornelius 
van Eesteren, Mai- 
son particuliere, 
1923. Grundriß 
l. Etage 
Rohe vorbehalten, aus der Not 
des „Flächendenkens“ die reine 
Tugend eines radikal geöffneten 
Grundrisses zu machen. In sei- 
nem Projekt für ein Landhaus 
aus Backstein, das aus dem glei- 
chen Jahr stammt wie das „Mai- 
son particulière“, entwickelte 
Mies die Konzeption eines Fließ- 
raumes, der, ohne zwischen In- 
nen- und Außenbereichen zu un- 
terscheiden, die nähere Umge- 
bung des Landhauses mit in die 
architektonische Raumvorstel- 
lung einbegreift. Mies vollstreck- 
te auf diese Weise nicht nur eine 
Tendenz, die sich schon im Werk 
F. L. Wrights angedeutet hatte, 
sondern er münzte auch architek- 
tonisch um, was Mondrian in sei- 
nen Bildern als „gleichwertige 
Raumauflósung* verstanden 
wissen wollte. 
Bei den Entwürfen für die Pa- 
riser Stijl- Ausstellung ging es van 
Doesburg auch um die Prásenta- 
tion bestimmter Darstellungsfor- 
men, mit denen er die Qualitáten 
der neuen plastischen Architek- 
tur adäquat zum Ausdruck brin- 
gen wollte. Seine und van Eeste- 
Die Wohnräume 
sind noch streng um 
das Treppenhaus 
formiert, beginnen 
sich aber schon zu- 
einander zu öffnen 
rens Projekte verzichten auf den 
individuellen Blickpunkt, wel 
chen die Perspektive imaginiert, 
sie verzichten auch auf Schnitte 
und werden stattdessen über- 
reichlich mit Axonometrien und 
einer — darstellungstechnischen 
Neuentwicklung van Doesburgs. 
die ,Kontra-Konstruktion", er- 
láutert. Letztere ist von den Axo- 
nometrien abgeleitet und stellt 
unabhángig von funktionalen 
und statischen Gegebenheiten 
das ásthetische Verfahren der 
Zerlegung,  Aneinanderfügung 
und Durchdringung der architek- 
tonischen Fláchen dar. Unter 
stützt wird die ästhetische Inter 
pretation der Architektur. wel 
Theo van Does- 
burg, Komposition. 
1925 
Der Einzug der „ar- 
chitektonischen 
Diagonalen" in die 
neo-plastische 
Kunst 
che die Kontra-Konstruktionen 
vornehmen, zudem durch van 
Doesburgs Farbkonzept. Die 
Farbe hat in der Stijl-Architektur 
die bedeutende Aufgabe, „das 
Gleichgewicht organischer Be- 
ziehungen sichtbare Realität“ 
werden zu lassen. Mit anderen 
Worten: die Farbgebung sollte 
kompositorisch die konstruktive 
„Gewichtung“ der architektoni- 
schen Formen, Flächen und Vo- 
lumen  veranschaulichen. Zu- 
sammen mit dem Farbkonzept 
bezeichnen die Kontra-Kon- 
struktionen den wichtigen Be- 
reich. in dem bildnerische und ar- 
chitektonische Uberlegungen zu- 
sammenflieBen. Das Ergebnis 
solcher Synthese hatte auch wie- 
der Auswirkungen auf die Male- 
rei des De Stijl. Nach 1923 führte 
van Doesburg in seine Bilder die 
„dynamische Diagonale“ ein, die 
als direktes Zitat des räumlich- 
diagonalen Aspekts der Kontra- 
Konstruktionen verstanden wer- 
den muß. 
Zusammenfassend läßt sich sa- 
gen, daß es dem De Stijlin Ansät- 
zen gelungen ist, eine gemeinsa- 
me ästhetische Basis für die 
zweckfreie und zweckgebundene 
Gestaltung bereitzustellen. 
Nicht zuletzt das „Maison parti- 
culiere“ ist ein Beweis dafür, was 
es heißt, die bildenden Künste in 
ihrer „elementarsten Erschei- 
nung“ in der Architektur zusam- 
menzufassen. Die These bietet 
sich an: daß erst seit den Experi- 
menten des De Stijl die bilden- 
den Künste und die Architektur 
nicht nur mehr miteinander 
„kombiniert“, sondern unmittel- 
bar durch gleiche ästhetische 
Verfahren einander anverwan- 
delt werden können. Indes ist ei- 
ne wesentliche Forderung der De 
Stijl-Künstler notwendig zum 
Scheitern verurteilt gewesen: die 
Versöhnung von Kunst und Le- 
ben. Resigniert gegenüber den 
Gefahren, die dem Projekt der 
Avantgardebewegungen von 
Seiten des Kunstgewerbes und 
Designs drohen, schrieb Theo 
van Doesburg am 7. November 
1928 an Adolf Behne: „Das Pu- 
blium will in der Scheiße leben 
und muß in der Scheiße sterben. 
(...) Beständige Werte werden 
nur von einer hundertprozenti- 
gen Kunst geschaffen. Das ist 
jetzt meine feste Überzeugung. 
Die Architektur ist ein falscher 
Weg, wie die angewandte 
Kunst.“ 
Gerd de Bruvn
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.