Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architektur und Städtebau (1988, Jg. 20, H. [93], Jg. 21, H. 94-97)

Auf den ersten Blick mag es überraschen, 
Norman Foster und Richard Rogers, aber 
auch Renzo Piano als Architekten vorzustel- e 
len, die sich in ihren Entwürfen mit der Stadt Nikolaus Kuhnert, Wolfgang Wagener 
auseinandersetzen. 
Bei Rogersist es sicherlich eine Reminiszenz DAS 
an seine italienische Herkunft, aber auch an 
die ersten Auseinandersetzungen um den 
weiteren Weg der Moderne: den CIAM VERS CH W IND EN 
Kongreß The Heart of the City, 1952, die Bei- 
träge von Ernesto Rogers, seinem Onkel, in 
Casabella Continuita zwischen 1955 und 1962 DER ARCHITE KTUR 
und die Schriften von Bernhard Rudofsky, 
Streets for people und Architecture without 
Architects — Bücher, auf die sich auch Nor- 
man Foster immer wieder bezieht. Hier be- TEIL 2: 
gann, was später unter verschiedenen Na- 
men Furore machen sollte: Contextualis- DAS ERSCHEINEN DES RAUMS 
mus, Rationalismus, Postmoderne. Ge- 
meint war damals aber nur die Frage nach 
der weiteren Zukunft der Moderne, bevor 
sich die Frage mit anderen Interessen misch- 
te und zu einer Moderne-Kritik wurde, die 
sich später zu einer grundsätzlichen Abwen- 
dung ausweitete: wie läßt sich das Schisma oder Metamorphose eines Allgemeinen, des konstruktion oder die fünfte Schicht der 
der Moderne korrigieren, statt belebter, mit A rchetyps oder der Urhütte. Mußte die Kri- Glaswände? Ist Fassade überhaupt noch ein 
Menschen bevölkerter Räume, statt Plätzen +ik an der Moderne zwangsläufig so enden? angemessener Begriff? Ist nicht eher von ei- 
also, nur Leerräume zwischen Solitären ge- Gab es keinen anderen Ausweg als den nem verlängerten Grundriß der Piazza zu 
schaffen zu haben? Marsch in den Neu-Platonismus? sprechen, mit Rolltreppen, Arkaden, Cafe- 
Die Frage ist heute wie damals unbeantwor- teria und Ausstellungsräumen? 
tet, nachdem sich alle Versuche als Irrwege . ® ; Gebäude dieser Art widersprechen jedem 
entpuppten: der Contextualismus mit der D je Positionen von Richard Rogers, ‚agitionellen Begriff von Architektur. Eine 
Thematisierung der Stadt unter dem Aspekt 7 Norman Foster und Renzo Piano sind Fassade, die sich als Fortsetzung der Piazza, 
von Figur-Grund-Bezichungen, der Ratio- Cindeutig. Sie plädieren für einen rigorosen Ron wände, die sich als Folge geschichte- 
nalismus mit der Thematisierung der Stadt Realismus. Gefragt sind bei ihnen Wachs- 10, Räume begreifen lassen, und ein Baukör- 
unter dem Aspekt von Typus-Gewebe-Be- tum und Wandel, Transformation und Per- per, der eher an eine transparente Struktur 
ziehungen und die Post-Moderne mit der Mmanenzin Architektur und Stadt. Ausgangs- cn kon Jäßt als an überkommene, durch 
Thematisierung der Stadt unter dem Aspekt Punkt ist ein anderes Verständnis von Stadt \iasse und Körperlichkeit sich auszeichnen- 
ihrer archetypischen Grundlagen. Der An- Und Architektur: Stadt wird betrachtet unter de Bauformen: 
spruch nach Entwerfen im städtischen Kon- dem Gesichtspunkt des Wandels, Architek- 
text verkam zum wahllosen Verteilen vom tur unter dem Gesichtspunkt der Veränder- . . 
Monumenten über die Stadt, der Anspruch barkeit. D jeses Architekturkonzept zieht die 
nach historischer Analyse zur nachgeschobe- People’s places zu schaffen, ist der Anspruch d Konsequenzen aus der Entmateriali- 
nen Rechtfertigung für willkürliche Entwür- von Richard Rogers. Folgerichtig wendet er Sıcerung der Architektur, die im 18. Jahrhun- 
fe. sich einem Problem zu, das scheinbar jeden dert mit den Ingenieurkonstruktionen, der 
Ausgangspunkt dieser Diskussion war ein ärchitektonischen Diskurs sprengt, da es das Mm Ye mit EM EEE vr 
Mißverständnis. Es geht auf die Arbeiten Flüchtigeund Unbestündige verkörpert: der SU TRAA AN tert: Dit Ci DE 
von Saverio Muratori zurück. In Studi per Frage des Schauspiels der Menschen, der ERS Hund la Ritto ni ; th N u 
una operante storia urbana zeigt er am Bei- Frage unterschiedlicher und sich ständig vEr- N Din © © n Rd H un 4 ons Ex N EESEh H 
spiel von Venedig, wie sich im Verlauf von Äändernder Lebensstile, der Frage der acrtivi-  Kiist a Hoaları a dr le Bull St on te 
mehreren Jahrhunderten bestimmte Typen, (/es-sie werden betrachtet in der besonderen Tre S N a 107 h Hand IS en AS 
casa ä calle, casa shiera ... ‚entwickeltunder- Form von overlapping activities. Am Beispiel TREE SEEN. 
halten haben. Muratori begründet so eine des Hauses interessieren so die Übergänge An die Stelle der durch Masse und Körper 
neue Richtung der Stadtbaugeschichte, von bedienten und dienenden Räumen, am definierten Bauten treten ın dieser Tradition 
jüngster Vertreter ist Gianfranco Caniggia Beispiel der Stadt die Übergänge vom Haus leichte und transparente Konstruktionen. 
(vgl. 85 ARCHT), als auch die, sich sicher- zum Öffentlichen Raum: Geschäfte, Arka- Raum stellt sich nicht mehr als eine Frage 
lich fälschlicherweise auf Muratori berufen- den, Wohnungs- oder Büroeingänge. Haus, VOn Masse und Körper, sondern ist eine Fra- 
de Richtung des italienischen Rationalis- Arkade, Straße, Platz und Stadt lassen sich ge Sich mehrschichtig überlagernder, trans- 
mus, wie sie Aldo Rossi vertritt. Stadt sieht SO lesen als Übergänge unterschiedlichen Parenter Konstruktionen, die erst durch die 
diese Richtung ausschließlich unter dem Verhaltens. Neu ist die bewußte Akzentu- Überlagerung, die Mehrschichtigkeit, Tiefe, 
Aspekt der Permanenz, der langen Lebens: ierung dieser Grenzen die dritte Dimension der Architektur, wie- 
dauer von Bauten. der erzeugen. Raumbildung und Baukörper 
al N CE sind nicht mehr eindeutig: die Überlagerung 
Det ist Mor rm m Ed en der einzelnen Schichten wird durch die Be- 
enn was bei Muratori eine Erweiterung des als ei ändi . 
architektonischen Repertoires war — de Ka- BAUKONZEPT N ABU ehe en des EN Ar 
tegorien Typus, Gewebe und Organismus —, r Er ee Baukörpers wahrgenommen, weil sich diese 
ist nun, ihres historischen Zusammenhangs Richard Rogers geht in zweierlei Weise vor: Schichten durch Bewegung immer etwas ge- 
entkleidet, nur noch ein Beispiel für die Dau- zum einen sieht er das Gebäude als eine Fol- geneinander verschieben. Der Baukörper 
erhaftigkeit städtischer Strukturen als sol- ge von Raumschichten, in Plan, Schnitt und scheint in seiner ganzen Dimension erst 
cher — und damit Vorbild für eine Architek- Aufriß, die durch die festen Elemente geglie- ayrch Bewegung, durch den menschlichen 
tur, die sich nicht mehr durch Bezugnahme dert werden. Zum anderen sucht er Horizon- Gebrauch, durch Räume in Aktion — es ist 
auf Lebensformen und Funktionen zu legiti- tale und Vertikale als eine Folge von Raum- qas Arbeiten mit dem nicht-perspektivi- 
mieren sucht. Ganz im Gegenteil: sie werden schichten zu überlagern. schen Raum, der Umgang mit beweglichen 
als flüchtig und unbeständig diffamiert, als was bedeutet dann noch Fassade beispiels- Fluchtpunkten. Die Grenze Körper-Raum 
unfähig, Form zu bilden. weise beim Centre Pompidou: die erste kann wechselseitig Figur oder Grund sein, 
Dieser Argumentation geht ein verschwiege- Schicht der Rolltreppen, die zweite Schicht zur Kulisse oder Bühne werden - die Fassade 
ner Idealismus voraus: er sieht im Besonde- der Windverbände, die dritte Schicht der beispielsweise zum Hintergrund der Piazza 
ren nur eine Variation, eine Transformation Laubengänge, die vierte Schicht der Stahl- oder zur Bühne für Gaukler, Schauspieler 
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