Charles Jencks
Die Freuden der Absenz
Wenn es denn wirklich eine „neo-moder- ße Leere, und die Ernsthaftigkeit, mit der und Post-Punk-Musik handelt es sich um
ne“ Architektur gibt, wie viele Architek- gewisse Einwohner von New York diesem einen informellen Stil, der bei ausgepräg-
ten und Kritiker eilfertig behaupteten, nihilnachjagen, legt die Vermutungnahe, tem Hang zum Widersprüchlichen, Kurz-
dann muß sie sich auf eine neue Theorie daß es sich irgendwo im Zentrum Manhat- lebigen, Unprätentiösen und Brutalen
und Praxis der Moderne stützen. Die ein- tans befindet. Da es sich bei der Architek- Anklang findet. Es ist ein Stil für das All-
zige Entwicklung, die sich in den letzten tur jedoch angeblich um eine konstruktive tagsleben auf der Straße und in diesem
zwanzig Jahren herausgebildet hat — be- Kunst mit sozialer Grundlage handelt, Sinne ein direkter Nachfolger der Moder-
kannt unter den Bezeichnungen Dekon- wirkt ein Architekt, der für LeereundUn- ne im Paris Baudelaires, von Duchamp
struktion oder Post-Strukturalismus, stei- Wesen entwirft, ein wenig komisch. Aber und Le Corbusier.
gert Elitedenken und Abstraktion der wer entscheidet das? Eine dekonstruktio- Gehrys Methode der Dekonstruktion
Moderne ins Extreme und übertreibt be- nistische, antisoziale Architektur hat die- ist gelegentlich recht wörtlich zu verste-
reits bekannte Motive, weshalb ich sie selbe Existenzberechtigung wie die ent- hen, da er imstande ist, ein bestehendes
weiterhin „spät“ nennen möchte. Ande- sprechenden Strömungen in Kunst, Lite- Gebäude in Stücke zu zerschlagen, Teile
rerseits enthält sie genügend neue Aspek- ratur und Philosophie (solange man für eigener Arbeiten unvollendet zu lassen
te, die die Voraussetzungen der kulturel- sich selbst oder einen kundigen Auftrag- und, wie im Falle seiner zerfallenden
len Moderne neu bewerten, um die Vorsil- geber baut), und es sollte nicht überra- Pappmöbel, aus rauhen, sich auflösenden
be „Neo“ zu rechtfertigen. „Neu“ oder schen, daß alle gleichermaßen elitär sind. Oberflächen eine ästhetische Tugend zu
„Spät“ — das ist tatsächlich die Frage und, Die äußerste „differance‘“, Derridas Prä- machen. Diese Vorgehensweise hat, wie
ebenso, ob die Betonung auf Kontinuität gung für den „Unterschied, der sich der auch in Eisenmans Fall, ihre Wurzeln ver-
oder Wandlung liegt? Die Tatsache einer Versprachlichung entzieht“, das ewig Un- mutlich in der komplexen Haltung seiner
dekonstruktionistischen Bewegung in der bekannte und „Andere“, bezeichnet das ethnischen Identität gegenüber einer jüdi-
Architektur aber muß akzeptiert werden. von der Gruppe isolierte Individuum, das schen Vergangenheit, die er gleichzeitig
Sie spiegelt Veränderungen in der Lite- sich jetzt auch noch in der Schizophrenie negiert und als symbolische Rolle akzep-
ratur der sechziger Jahre („deathoftheau- von sich selbst entfernt. Obgleich es ab- tiert. [...] Eine ausgedehnte Psychoanaly-
thor“ und später „pleasures of the text“ surd erscheinen mag, Bauen auf Solipsis- se hat ihm wie auch Eisenman, geholfen,
von Roland Barthes) sowie Wandlungen mus und Skeptizismus dieser Art zu grün- seine doppelten Beweggründe und deren
in der Philosophie wider (die Vorstellun- den, repräsentiert Architektur doch im- relative Normalität innerhalb der ameri-
gen Jacques Derridas von kritischer „de- mer allgemeine kulturelle Werte, und nie- kanischen Gesellschaft zu begreifen: Ab-
construction“ und „differance“) und wur- mand wird abstreiten, daß es sich hier um lehnung des Judentums in der Jugend,
de von Peter Eisenman als eine Theorie zeitgenössische, ja modische Erscheinun- Hinwendung zum Atheismus und später
und Praxis des Negativen am umfassend- gen in den übrigen Künsten handelt. 34 Rückkehr zur ethnischen Identität, selbst
sten entwickelt („not-classical‘“ , „de-com- die Rolle als Verfemter, das Andere. „Ak-
position“, „de-centering“, „dis-continui- zeptiert zu werden ist nicht alles“ , steht als
ty“). Eisenman, der sich ständig auf der Frank Gehry und Leitsatz über seinem Lebenswerk, „solange
Suche nach linguistischen und philosophi- der Stil der Dekonstruktio n die Nicht-Akzeptanz akzeptiert wird.“ !)
schen Rechtfertigungen für seine Archi- Diese ironische Sophistik erkärt teilwei-
tektur befindet und der die Brauchbarkeit Frank Gehry entwickelte den postmoder- se die häufige Verwendung des Fischmo-
von Strukturalismus und Chomsky inden nen Raum von Charles Moore und ande- tivs. Als Junge mußte er oft Demütigun-
siebziger Jahren erschöpft hatte, bewegt ren mittels einer spätmodernen abstrak- gen ertragen, weil er ein „Fischesser“ war,
sich rastlos von einer metaphysischen ten Formensprache. Diese Phase seiner nach „Fisch roch“, kurz, als Jude in einem
Sphäre zur anderen, ein nimmermüder Arbeit, die sich im Umbau seines eigenen verrufenen katholischen Viertel in Toron-
Odysseus auf der Suche nach seiner Nicht- Hauses im Jahre 1978 verdichtet hat, wur- tolebte. Fünfzig Jahre später bat man ihn,
Seele, ein vagabundierender Vertreter de zunehmend selbstbewußt, in dem Ma- Objekte für das Colorcore genannte
der Moderne, der bei Nietzsche, Freud Be, wie sie zum populären Stil und zur pro- Kunststoffprodukt zu entwerfen, eine ma-
und Lacan vorübergehend eine Atempau- fessionellen Norm wurde. Angesichts von kellose Plastikfolie, die, gleich wie man sie
se einlegte, ehe er zu weiteren Stationen Gehrys Produktion von Pappmöbeln und schneidet, immer perfekt aussieht. In ei-
von Überdruß und Verfremdung eilt. Der Formica-Fischlampen, seinen zahlreichen nem Anfall erleuchteter Verzweiflung
Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die Bauaufträgen und Kunstinstallationen, warf Gehry das steife Material auf den Bo-
Atombombe und jede Menge anderer un- der 1986 in der Walker Art Gallery gestar- den, wo es in Teile mit unregelmäßigen,
ausweichlicher Schrecken werden fürihn, teten Wanderausstellung, den Fischre- zerklüfteten Kanten zerbrach. Diese un-
gleich einem Helden aus Woody Allens staurants in Japan oder dem für New York vollkommenen/vollkommenen Teile ver-
Universum, zur Quintessenz des moder- geplanten Fischhochhaus [...] kann man wendete er als Schuppen seiner Fischlam-
nen Lebens, zu Daten, die sich in der Ar- von einer weitverbreiteten Akzeptanzder pen - eher Kunstobjekte als Leselampen,
chitektur darstellen müssen. Für einige dekonstruktionistischen Ästhetik spre- die in Galerien für weit über zehntausend
Leute ist nichts glaubwürdiger als die gro- chen. Ahnlich der Kleidung von Esprit Dollar verkauft werden. [...]
Den