Full text: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg (Bd. 138, 1983)

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ULRICH KuLL 
rung der Stammesgeschichte der höheren Pflanzen ist daher auch nicht an die 
Anzahl von vorliegenden. Fossilfunden gebunden, sondern vor allem von der 
Erkennung der Homologien und ihres systematischen Wertes abhängig. 
Unentbehrlich sind die Fossilien allerdings, um einen Stammbaum in die geo- 
logischen Zeiträume einzuordnen. 
Alle heute existierenden Arten sind Nachkommen von Arten der Vergan- 
genheit. Eine Vermehrung der Anzahl an Arten erfolgt durch den Vorgang 
der aufspaltenden Evolution. Wenn man in die geologische Vergangenheit 
zurückgeht, muß man deshalb Arten finden, die Vorfahren immer größerer 
Gruppen heutiger Arten sind. Auf dieser Überlegung beruhen alle üblichen 
Darstellungen von Stammbäumen. 
Die Homologieforschung, die zur Aufstellung des natürlichen Systems der 
Organismen geführt hat, ist möglich und sinnvoll, weil in der Evolution 
Grundstrukturen erhalten bleiben. Das Auffinden dieser konstitutiven Merk- 
male und ihre richtige Homologisierung ist die Grundlage der Systematik. Die 
Merkmale wurden bisher vorwiegend dem Bereich der Anatomie und Mor- 
phologie der Organismen, teilweise auch der Genetik, vor allem Cytogenetik, 
entnommen. Zunehmende Bedeutung gewinnen heute Merkmale aus den Ge- 
bieten Physiologie, Biochemie, Ökologie, Parasitologie und Biogeographie 
(vgl. Kuır 1977). Bei der Artaufspaltung gehen die einzelnen Merkmale entwe- 
der unmittelbar auf die Nachfolgearten über, oder sie verändern sich. Manche 
Merkmale behalten ihren ursprünglichen (primitiven) Charakter bei, andere 
werden durch Adaption verändert. Die mosaikartige Verteilung der Merkmale 
ermöglicht es, zu. erkennen, daß eine bestimmte Artengruppe aus einer Stam- 
mesart. entstanden ist. Ihre Vertreter müssen nämlich bestimmte abgeleitete 
(apomorphe) Merkmale gemeinsam haben, die nur in dieser Gruppe auftreten, 
weil sie bei der Stammart aller Arten der Gruppe entstanden sind. Es sind Syn- 
apomorphien. dieser Gruppe. Hingegen erlauben die primitiven (plesiomor- 
phen) Merkmale keine Rückschlüsse; sie sind von der Stammart her unverän- 
dert erhalten geblieben. Eine Anhäufung vieler primitiver Merkmale bei einer 
Artengruppe ist daher kein Beweis für deren phylogenetische Zusammenge- 
hörigkeit. 
Die Anpassung der Arten an eine sich verändernde Umgebung erfolgt durch 
Selektion auf der Grundlage der eingetretenen Mutationen. Die Möglichkeiten 
sind dabei durch vorhergegangene Adaptionen begrenzt; diese verursachen 
eine „evolutionäre Kanalisation“ (STEBBINs 1974). Ein Erfolg in der Evolution 
zeigt sich entweder in der Erhaltung einer Art bzw. Gruppe über lange geolo- 
gische Zeiträume hinweg (im Extremfall entstehen „lebende Fossilien“), wobei 
es auch oftmals zu einer weiten geographischen Verbreitung kommt, oder aber 
in einer ausgeprägten Radiation, die zur Bildung zahlreicher neuer Arten 
führt, die sich unterschiedlich weiter adaptieren können. 
Bei den Blütenpflanzen haben sich die verschiedenen Adaptionen, die vege- 
tatives Wachstum, Sicherstellung der Bestäubung und Befruchtung und Samen- 
verbreitung betreffen, offenbar weitgehend getrennt voneinander entwickelt. 
Vermutlich liegen ihnen ganz unterschiedliche Genkomplexe zugrunde (STEB- 
BINS 1974), die wenig miteinander zu tun haben, so daß die Selektion weitgehend 
getrennt daran angreifen kann (vgl. KuL. 1975). Dies muß zu einer extre- 
Jh. Ges, Naturkde. Württ. 138 (1983)
	        
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