ULRICH KuLL
daher aus krautigen Formen erneut verholzte Arten entstehen, kommt es zu
einem andersartigen Dickenwachstum. Dies zeigen Palmen, Dracaend, Bam-
busgräser, holzige Compositen, Lobelien, Phytolaccaceen und Chenopodia-
caen. Dagegen ist der Übergang von der biennen zur annuellen Lebensform
ohne weiteres reversibel. Viele Einjährige können bei Verhinderung der Blü-
tenbildung mehrere Jahre alt werden, und bei manchen zweijährigen Arten
beobachtet man unter Streß eine annuelle Entwicklung (z.B. Verbascum:
NAGLSCHMI et al. 1982).
Möglichkeiten und Verfahren der phylogenetisch orientierten Systematik
Die systematische Gliederung einer Organismengruppe soll deren Phyloge-
nie möglichst genau wiedergeben. Dies ist das Grundprinzip jeder „natürli-
chen“ Systematik. Dennoch gibt es heute drei verschiedene „Schulen“ der
Systematik- und somit Phylogenie-Forschung: die phänetische, die evolutionä-
re (oder evolutionsbiologische) und die cladistische (oder konsequent-phyloge-
netische) Systematik.
Phänetische Systematik: Die Klassifizierung erfolgt aufgrund der
Summe aller untersuchten Ähnlichkeiten zwischen den Arten. Ob diese Ähn-
lichkeiten durch Evolution zustande gekommen sind, spielt dabei zunächst
keine Rolle. Die phänetische Systematik ist daher „theoriefrei“; es erfolgt keine
Gewichtung von Merkmalen und keine phylogenetische Vorüberlegung geht
in diese Klassifikation ein. Um phylogenetisch relevante Ergebnisse zu erhal-
ten, müssen aber sehr viele Merkmale verglichen werden (im nicht erreichba-
ren Idealfall alle!). Ein plausibler Stammbaum ist nämlich nur zu gewinnen,
wenn Konvergenzen nicht ins Gewicht fallen. Die phänetische Systematik
kann sehr gut mit numerischen Methoden arbeiten; tatsächlich gelangt die
sogenannte numerische Taxonomie zu phänetischen Gliederungen. Für die
Großgliederung höherer Pflanzen hat das Verfahren nie Bedeutung erlangt.
Eine phänetische Gliederung der Dicotylen haben Young und WATson (1970)
vorgelegt: sie ist ohne Wirkung geblieben.
Evolutionäre Systematik: Eine zusammenfassende Übersicht über
die Methoden findet man bei Mayr (1981) sowie in den evolutionsbiologischen
Standardwerken (z.B. MAyr 1967). Es sind dies die klassischen Verfahren, die
zur Aufstellung und fortlaufenden Verbesserung des natürlichen Systems
geführt haben. Die evolutionäre Systematik geht von der Voraussetzung aus,
daß Phylogenie stattgefunden hat. Diese soll durch Homologieforschung unter
Wertung der Merkmale rekonstruiert werden. Zunächst müssen daher Kon-
vergenzen und Ergebnisse einer Parallelevolution erkannt werden, so daß sie
für die weiteren Überlegungen außer Betracht bleiben können. Alle festgestell-
ten apomorphen Merkmale werden zur Beschreibung der phylogenetischen
Verwandtschaft herangezogen und auch quantitativ gewertet. Dadurch wird
das Ausmaß der evolutiven Veränderung in den einzelnen Entwicklungslinien
(die Zahl der Autapomorphien) mit in die Überlegungen einbezogen. Außer-
dem werden auch plesiomorphe Merkmale zur Charakterisierung von Taxa
Ih. Ges. Naturkde. Württ. 138 (1983)