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ULRICH KULL
Evolutionäre und cladistische Systematik bemühen sich um den Nachweis
von Homologien, die zur Klassifikation herangezogen werden, und von
Konvergenzen, die nicht herangezogen werden dürfen. Die evolutionäre Syste-
matik beruht auf der Gesamtheit der Aussagen der Evolutionstheorie, bezieht
also auch deren nicht quantifizierbare Aussagen ein. So spielt das Ausmaß der
Anagenese (Ausbildung autapomorpher Merkmale) für die evolutionäre Syste-
matik eine Rolle, obwohl dieses nur bei sehr weitgehender Kenntnis des mole-
kularen Baus des Genoms mit Hilfe der Informationstheorie quantitativ zu
erfassen wäre. Es ist dann zu fragen, wieviele autapomorphe Merkmale eines
Taxons ausreichen, um die Gleichrangigkeit von Schwestergruppen aufzuhe-
ben. Wenn eine bestimmte Gruppe durch Synapomorphien charakterisiert ist,
wird eine andere Gruppe oft durch einen Komplex symplesiomorpher Merk-
male gekennzeichnet. Von der Phylogenie her gesehen ist dies falsch (vgl.
ScHLEE 1981). Die durch diese Vorgehensweisen hereinkommenden Wertun-
gen führen zu subjektiven Elementen in der evolutionären Systematik; diese ist
also zumindest nicht völlig falsifizierbar.
Die cladistische Systematik berücksichtigt nicht alle Merkmale, sondern nur
so viele, wie zur Aufstellung einer eindeutigen Phylogenie notwendig sind.
Zur Gewinnung der Stammbäume wird also weniger Information verwendet
als in der evolutionären Systematik. Dies wird von deren Vertretern bemängelt
(Mayr 1981); es ist aber gerade der Vorteil cladistischer Verfahren. Diese sind
unabhängig von der Richtigkeit der Aussagen über Evolutionsraten, adaptive
Zonen und dergleichen. Ihre Aussagen zur Phylogenie hängen nur von den
untersuchten Merkmalen ab; sie sind falsifizierbar. Allerdings erfolgt die Falsi-
fikation meist in einem eingeschränkten Sinn: Die aufgestellte Verwandt-
schaftshypothese wird zurückgewiesen, weil es zu wenige Anhaltspunkte
dafür und viele dagegen gibt. Subjektive Ansichten werden aber im Prinzip
ausgeschlossen.
Probleme und Vorteile der cladistischen Systematik:
Ein konsequent-phylogenetischer Stammbaum gibt die Phylogenie so exakt
wie möglich wieder, er zeigt aber nicht alle Aspekte des Evolutionsvorganges
auf. (Anzahl und Ausmaß der Autopomorphien werden nicht angegeben.) Im
Gegensatz zu den evolutionsbiologischen Stammbäumen sind aber die enthal-
tenen Aspekte exakt wiedergegeben (HuLL 1979). Im konkreten Fall entsteht
allerdings vielfach das Problem, wie Plesiomorphie bzw. Apomorphie der ein-
zelnen Merkmale eindeutig zu erkennen sind. Gerade bei Pflanzen treten hier
große Schwierigkeiten auf (vgl. STEvEns 1980). Bei ihnen müssen viele einfache
Merkmale mit potentieller Reversibilität mit herangezogen werden; deren
Auswahl und Wertung aber ist subjektiv. Diese Merkmale sind vielfach auch
nicht beliebig abwandelbar (z.B. gibt es nicht beliebig viele Bestäubungsmög-
lichkeiten), so daß zwangsläufig Konvergenzen und Parallelentwicklungen auf-
treten müssen, die schwer nachzuweisen sind. Infolge dieser Probleme können
auch bei Anwendung konsequent-phylogenetischer Methoden verschiedene
Autoren zu unterschiedlichen Systemen kommen (vgl. SCHULTZE 1981); dies ist
aber kein Argument gegen die Methodik selbst.
Es sei schon an dieser Stelle auf einige Fälle solcher unterschiedlicher Wertungen
bei den Angiospermen hingewiesen. Bei den primitiven Angiospermen sind Tracheen
Ih. Ges. Naturkde. Württ. 138 (1983)