Full text: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg (Bd. 138, 1983)

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ULRICH KuLL 
Das cladistische System hat ferner den Vorteil, daß bisher unbekannte Taxa 
jederzeit nachträglich einbezogen werden können. Die Einfügung aufgrund 
ihrer Syn- und Autapomorphien ist zugleich eine Bestätigung der vorhergegan- 
genen Argumentation, die zur Gliederung der Gruppe geführt hat, oder sie 
muß zur Veränderung des Systems Anlaß geben. Dasselbe gilt für die Untersu- 
chung zusätzlicher Merkmale (z.B. chemischer oder molekularbiologischer) 
bei den bekannten Arten einer Gruppe. 
Mit der Aufspaltung einer Stammart in zwei Tochterarten verschwindet 
nach der cladistischen Definition die Stammart. Man kann sich vorstellen, daß 
eine Aufspaltung auch so ablaufen kann, daß eine Tochterart ein neues, auta- 
pomorphes Merkmal ausbildet, die andere Tochterart aber keine Autapomor- 
phie aufweist, also morphologisch die Stammart unverändert fortsetzt. In die- 
sem Fall muß dennoch von einer Tochterart gesprochen werden und hört die 
Stammart definitionsgemäß auf zu existieren (vgl. SCHLEE 1971). Dies wird 
immer wieder als Mangel der cladistischen Methode angegriffen. Es handelt 
sich aber einfach um eine logische Forderung; daß sie auch von der molekula- 
ren Evolutionsforschung untermauert werden kann, wurde früher schon dar- 
gelegt (Kur. 1975). Auch wenn in der Praxis Probleme mit dieser Forderung 
auftreten mögen, weil dann ein sicheres Schwestergruppenverhältnis nicht fest- 
gestellt werden kann, so ist sie doch für die Phylogenie in der Regel ohne grö- 
ßere Bedeutung (PETERS 1970). 
Da die cladistische Systematik vom populationsbiologischen Artbegriff aus- 
geht, besteht ein Stammbaum stets aus Arten. Daher kann sie den Weg der 
Evolution theoretisch in optimaler Weise aufzeigen. Fossilien können den 
richtigen Platz im System nur erhalten, wenn ein Zusammenhang mit rezenten 
Organismen hergestellt ist. Eingeordnete Fossilien liefern Aufschlüsse über die 
Abfolge der Merkmalsentstehung in eine Gruppe und erlauben es, den Stamm- 
baum zeitlich zu fixieren. Dadurch werden viele biogeographische und evolu- 
tionsbiologische Überlegungen möglich. Fossilien, die aufgrund ihres Erhal- 
tungszustandes nicht eingeordnet werden können, weil ihre genaue Verwandt- 
schaft nicht festzustellen ist, sollten unberücksichtigt bleiben (HENNIG 1982). 
Es kommt sonst leicht zu Fehlinterpretationen. So wurden Blattreste aus der 
Unterkreide, die von primitiven Angiospermen stammen, verschiedenen 
Familien und Gattungen heutiger Angiospermen zugeordnet. Dann wurde 
daraus der irrtümliche Schluß gezogen, daß die Angiospermen schon lange vor 
der Kreidezeit entstanden sein müßten, weil in der Unterkreide schon Vertre- 
ter zahlreicher Familien vorgelegen hätten. 
Ein weiteres Problem der cladistischen Systematik betrifft die Einordnung 
der Rangstufen. Man kann nicht alle Stufen, die im cladistischen System auf- 
treten, einer systematischen Kategorie zuordnen, weil die Hierarchie der übli- 
chen Taxa hierzu bei weitem nicht ausreicht. Es bleibt der Ausweg einer rei- 
nen Zahlengliederung, wie er von HEnnic angewandt wurde. Außerdem ist 
darauf hinzuweisen, daß Zusammenfassungen, z.B. von mehr als zwei Arten 
zu einer Untergattung oder Gattung, bereits ein subjektives Element enthalten 
(Peters 1970). Dies wird bei höheren Taxa noch auffälliger. Aus praktischen 
Gründen wird man auch von der Forderung nach gleichem taxonomischen 
Rang in der Benennung von Schwestergruppen gelegentlich abgehen müssen. 
Ih. Ges, Naturkde. Württ, 138 (1983
	        
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