Erwin Lindner 100 Jahre
Jeder Entomologe, der sich in irgendeinem Erdteil mit Fliegen oder Mücken
befaßt hat, kennt ERwIn LINDNER, den Stuttgarter Wissenschaftler, zumindest
dem Namen nach. Er kennt ihn als den Autor zahlreicher spezieller Arbeiten
über diese meist geringgeschätzten und vernachlässigten Insekten und als den
Initiator und Herausgeber der ‚Fliegen der paläarktischen Region‘, jenes
Monumentalwerkes, das bisher 330 Lieferungen mit insgesamt 15636 Seiten
und 21 530 Abbildungen umfaßt und noch nicht abgeschlossen ist. Am Staatli-
chen Museum für Naturkunde (damals Württembergische Naturaliensamm-
lung) war LINDNER seit 1913 tätig: 7 Jahre als wissenschaftlicher Assistent, 5
Jahre als Konservator, 28 Jahre als Hauptkonservator, und nach Eintritt in den
sogenannten Ruhestand (1953) arbeitete er noch fast 30 Jahre freiwillig und un-
ermüdlich weiter, bis allmählich das hohe Alter seinem Fleiß und seinem Kön-
nen ein Ende setzte.
Am 7. April 1888 wurde (CHRISTIAN OTTO Kurt) ERWIN LINDNER auf dem
Landgut Böglins 2 km südlich Ottobeuren im bayrischen Schwaben geboren.
Sein Vater, der Gutsverwalter OTTO LINDNER stammte aus Schneeberg in Sach-
sen (Bezirk Chemnitz), seine Mutter ANnA geb. KessLer aus Nördlingen. Als
der Bub 5 Jahre alt war, zog die Familie vom Land in die Großstadt nach Mün-
chen, wo Erwin die Neuhausener Elementarschule, die Ludwigs-Kreisrealschu-
le und die Luitpold-Kreisoberrealschule besuchte. Das Reifezeugnis, datiert 14.
Juli 1909, gibt ihm die Noten ‚sehr gut‘ im Zeichnen, ‚gut‘ in Religion,
Deutsch, Englisch und Turnen, ‚genügend‘ in Französisch, Geschichte, Geo-
graphie, Physik und Chemie, jedoch ‚ungenügend‘ in Mathematik. Es fehlt in
dem Zeugnisvordruck das Fach Biologie, damals Naturbeschreibung genannt,
es war offenbar nicht wichtig genug, im Abitur geprüft zu werden. Aber das
Interesse des jungen Mannes an der Natur und vor allem der Tierwelt war
schon frühzeitig wach und aktiv.
Schon als 14jähriger hatte ERwIN begonnen, Schmetterlinge zu sammeln oder
aus Raupen aufzuziehen. In der Bibliothek der Oberrealschule hatte er ein
Buch von JeAn-Henrı Fasre gefunden, und die Aufzeichnungen dieses be-
rühmten Entomologen faszinierten ihn. An drei oder vier Tagen jeder Woche
wanderte er zu einer abgeholzten, von jungen Birken und vielen anderen wild-
wachsenden Pflanzen bedeckten Fläche im Perlacher Forst, eine halbe Stunde
von seiner Wohnung entfernt, um dort zu sammeln und zu beobachten. Die
Schmetterlinge kannte er schon als Schüler sehr gut, auch ihre wissenschaftli-
chen Namen. Der 22jährige hat dann in einer 6seitigen Publikation (1911*)
über „seinen Birkenschlag“ und dessen Schmetterlingsfauna berichtet und sein
Bedauern ausgedrückt, daß dieses schöne Stück Natur verschwinden und statt
dessen eine Gartenstadt entstehen sollte. Außer dem Perlacher Forst nennt die
handgeschriebene Liste der ersten ‚Sammlung LINDNER‘ noch die Isar-Auen,
'h. Ges. Naturkde. Württ. 143 (1988)