Il. Vorträge und Abhandlungen.
Der heutige Stand der Befruchtungslehre*.
Von Prof, Dr. Häcker in Freiburg i. Br.
Über keinen anderen Lebensvorgang sind im Laufe der Zeiten
so verschiedenartige und einander entgegengesetzte Ansichten aus-
gesprochen worden, wie über die Zeugung oder Befruchtung. Nament-
lich im 17. und 18. Jahrhundert hat das Rätsel dieses Vorgangs
Philosophen und Naturforscher zu den abenteuerlichsten Phantasien
verleitet, so dass bereits am Ende des 17. Jahrhunderts die Zahl der
sogenannten Zeugungstheorien auf etwa 300 geschätzt wurde. Erst
durch den SPALLANZANI’'schen Versuch, gegen das Ende des letzten
Jahrhunderts, wurden diese auseinanderflatternden Spekulationen auf
eine einigermassen sichere Grundlage zurückgeführt, die Fragestellung
konnte eine bestimmtere werden und, indem die Beobachtung und
die Theorie in engster Verbindung miteinander blieben, wurde ein
langsamer, aber geradliniger Fortschritt eingeleitet. Einen besonders
mächtigen Antrieb hat schliesslich diese Forschungsrichtung in den
letzten 25 Jahren durch die ausserordentliche Entfaltung der Zellen-
lehre erhalten, und so stellt denn gerade das Gebiet der tierischen
Befruchtung ein besonders deutliches Beispiel dar für den histo-
rischen Gang und das Tempo, in welchem die biologischen For-
schungszweige überhaupt, ihre Methoden, Probleme und Ergebnisse,
fortgeschritten sind.
Es lohnt sich wohl kaum, bei den Vorstellungen länger zu
verweilen, zu welchen die mittelalterlichen Philosophen und Natur-
forscher bezüglich des Wesens und der Bedeutung des Befruchtungs-
yorgangs gelangt waren, um so weniger, als bei diesen phantastischen
und mystischen Lehren wohl schwerlich von einem allmählichen
Fortschritt, von einer eigentlichen Entwickelung die Rede sein kann.
* Vortrag, gehalten bei der Generalversammlung in Stuttgart 1896.
‚Jahreshefte d. Vereins f. vaterl. Naturkunde in Württ. 1897.
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