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wenn er auch — wie in den letzten Jahren — aus obigen Gründen
den Versammlungen fern bleiben mußte, wie beispielsweise den
Winterversammlungen in Tübingen, so war er doch im Geiste bei
uns und dachte unserer, wie wir seiner, in schriftlichem Verkehr.
Dieser seltene Mann war Dr. med. WILHELM CAMERER, Medizinal-
rat in Urach. Er war geboren den 17. Oktober 1842 in Stuttgart
als Sohn eines bekannten Arztes, der dem Katharinenspital vorstand.
Seine Mutter, des Vaters zweite Frau, war eine geborene Hırzen aus
Spaichingen. Nachdem er sich durch Gymnasialunterricht in Stuttgart
und Blaubeuren auf das Universitätsstudium vorbereitet hatte, bezog
er — was für seine ganze spätere Laufbahn sicher von großer Be-
deutung war — das Polytechnikum in Stuttgart und legte hier den Grund
für eine mathematisch-naturwissenschaftliche Vorbildung, in welcher
er sicher die meisten seiner gleichalterigen medizinischen Kollegen be-
deutend übertraf. Erst nach diesem Studium bezog er die Universität
Tübingen und ließ sich als Mediziner einschreiben. Zu gleicher Zeit
trat er in die Burschenschaft ein, deren Geschichte er noch wenige
Jahre vor seinem Tode in liebevoller und eingehender Weise verfaßte.
Schon als junger Mediziner hatte er offenbar eine besondere
Zuneigung zur Physiologie, wie denn auch seine aus dem Jahre 1866
stammende Doktordissertation ein physiologisches Thema behandelt
und unter C. VıerorDpr's Anregung und Leitung ausgeführt worden
ist. Sie trägt den Titel „Versuche über den zeitlichen Ver-
lauf der Willensbewegung“. Es sollte — wenn ich von
Einzelheiten absehe — die Geschwindigkeit untersucht werden, mit
welcher sich ein Glied, z. B. unser Arm, bezw. unsere Hand über eine
ebene Fläche horizontal bewegt, wenn wir die Absicht haben, sie
mit einer bestimmten Geschwindigkeit fortzuführen, etwa mit einem
Bleistift eine gerade Linie längs eines Lineals zu ziehen. (CAMERER
fand, daß die ungezwungenste Form einer derartigen Bewegung
eine zunehmende Beschleunigung der Geschwindigkeit zeigt, etwa
wie ein frei fallender Körper, und schließt daraus, daß auch der
Wille auf unsere Nerven und Muskeln wohl in gleicher einfacher
Art wirkt, wie die Schwerkraft auf einen fallenden Körper. Sorg-
same Beobachtung und originelle Deutung der Versuchsergebnisse
charakterisieren diese seine erste wissenschaftliche Arbeit.
Des weiteren beschäftigte er sich als praktischer Arzt in Ger-
stetten mit Untersuchungen auf dem Gebiete der Sinnesphysiologie,
zunächst mit solchen, welche den Geschmacksinn betrafen und die
Grenzen der Verdünnungen zu bestimmen suchten, die noch charakte-