Selbstkontrolle feststellen kann, ein Irrtum. Wer einen Einblick in die Kon-
struktionsbüros der Industrie getan hat, der weiß, daß innerhalb der Grenzen
einer erreichbaren Verwirklichung der Zwecke ein — großenteils anonymer —
Gestaltungstrieb sein Wesen treibt. In ungezählten Fällen entscheidet in einem
zwischen den rechnerisch feststellbaren Bedingungen und Überlegungen ver-
bleibenden Spielraum das Auge, der unbewußt wirkende Sinn für Proportion
und für den Geist des Materials.
Die Vielgestaltigkeit von Industrieerzeugnissen, die für den gleichen Zweck
zebaut sind — z. B. Automobile gleicher Sitzzahl und Zugkraft —, zeigt, wie
beträchtlich der erwähnte Spielraum ist.
Auf diese Tatsache des Spielraumes stößt auch die bewußte Baugestaltung,
soweit sie sich bemüht, Ausdrucksformen rein aus der sinngemäßen Verwirk-
lichung der Bauzwecke und der sinngemäßen Verwendung der Baumittel
abzuleiten. Die reine oder wirtschaftliche Statik eines Bauwerkes, die sichtbare
Erfüllung seiner Funktion und die Eigenart seines Materials bieten eine gewisse
elementare Grundlage für die Gestaltung, bestimmen sie jedoch in Wirklichkeit
nie eindeutig. Der zweite theoretisch und praktisch versuchte Weg der Ge-
staltung: eine Ableitung der Ausdrucksform rein aus der sinngemäßen Ver-
wirklichung der Zwecke und der Ökonomie der Mittel führt offenbar nicht
zum Ziele.
Mit einer tieferen Erfassung des Spielraumes läßt sich jedoch ein wichtiges
Prinzip moderner Baugestaltung eröffnen. Das natürliche Bestreben geht in
unserer Zeit zweifellos mehr als jemals, unter dem Druck sozialer Verhältnisse,
dahin, den Spielraum, das Gebiet des durch Zwecksetzung nicht fest Bestimm-
baren, möglichst klein zu machen, d.h. die mit dem Sinn des Bauwerkes zu-
sam menhängenden Bedingungen möglichst differenziert zu erkennen und zu
erfüllen. Anderseits gilt es aber bei der Gestaltung, den Spielraum als solchen
gegen willkürliche oder irrtümliche Beschränkung durch den technischen
Bauschematismus zu verteidigen. Es ist eine bemerkenswerte Erscheinung, daß
die Schulung des konstruktiven und zweckerfassenden Wissens sich leicht auf
schematische Formen festlegt. Indem der Gestalter die Freiheit der Wahl
zwischen gleich sinngemäßen Möglichkeiten der Struktur lebendig zu erfassen
und aufrecht zu erhalten strebt, kann er zu einer im ganzen und einzelnen
vertieften und differenzierten Auffassung der Zweckhaftigkeit gelangen, die
rückwirkend die Gestaltung vervollkommnet, wie wir dies bei den Gestaltungen
der Industrieprodukte feststellen können.
Über diese differenzierte sinngemäße Durchbildung der geplanten Baugestalt
hinaus wird aber in dem streng begrenzten und gewahrten Spielraum
der Mittel die freie künstlerische Ausdrucksform erfunden, die zusammen mit der
adäquaten Erfüllung des Sinnes die vollkommene Gestaltung hervorbringt.
Weder der auf absolute Zweckhaftigkeit und Ökonomie gestellte Ingenieur-
geist unserer Zeit, noch eine auf Freiheit des Ausdruckswillens gerichtete Archi-
tektur wird sich der Tatsache des Spielraumes und der Gebundenheit an seine
Grenzen entziehen können. Der Gestalter kann aus beiden Lagern kommen,
wenn nur jener geistige Überschuß da ist, der den Spielraum zu
erfüllen vermag.