EINLEITUNG
Fichte hat in einer seiner akademischen Vorlesungen die
Menschengeschichte in Epochen geteilt, die einen Abstieg und
Aufstieg umfassen, und wobei das gegenwärtige Zeitalter die
Tiefe, die Stufe der vollendeten Sündhaftigkeit darstellt. Vor-
angeht die Epoche der Unschuld oder der Vernunft aus
[nstinkt und die Epoche der Vernunft aus Autorität, mit
der die Sündhaftigkeit ihren Anfang nimmt. Lösung von
der Autorität, Isolierung des einzelnen in seinem eigenen un-
vernünftigen Wollen, ist also das Kennzeichen der Gegenwart.
Abstieg zugleich und notwendige Vorbedingung des Aufstiegs.
Solche Klassifizierungen sind immer gefährlich und wenn
sie von klugen Leuten vorgenommen werden immer er-
leuchtend, Uebergangszeit, das ist allerdings das Kenn-
zeichen unserer Epoche. Die Menschen lösen sich von alten
Bindungen, feste Formen der Gesellschaft lösen sich auf.
Und an die Stelle der gesellschaftlichen und geistigen Ein-
heit tritt der Kampf. Wir wissen, woher die Zersetzung und
Gärung in die mittelalterliche Gesellschaft kam: durch die
wirtschaftlichen Wandlungen, die den Kaufmann zunächst
und später den Unternehmer an die erste Stelle in der Ge-
sellschaft erhoben. Und wir können die erste Phase der Wand-
lung umschreiben: Zersetzung des Feudaladels. Schon dieser
Anfang zeigt alle Symptome einer revolutionären Entwick-
lung: die Verwirrung zwischen den einzelnen Klassen, die
losgelösten Einzelnen, die ihre Stelle in der Gesellschaft
suchen und aus ihren gefährdeten Existenzen das wache Be-
wußtsein gewinnen, die nicht mehr schlechtweg Geächtete
sind außer dem Gesetz der geschlossenen Gesellschaft, sondern
Führer zu einer neuen Ordnung, die Zusammenballung der
alten Gewalten und die leidenschaftliche Formulierung der
Weltanschauungen, und jenes unbekümmerte Geniessen
zwischen den Schlachten, das die kommende Sündflut sieht,
aber vergessen will.
4 Siemsen, Literarische Streifzüge
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