Full text: Für Bauplatz und Werkstatt / Mitteilungen der Kgl. Württemberg. Beratungsstelle für das Baugewerbe (Jg. 1906, Bd. 1, Heft 1/12)

J 
und Wercstatt 
⸗ 
Mitteilungen der Beratungsstelle für das Baugewerbe 
herausgegeben von der Königl. Zentralstelle für HGewerbe und handel 
1. Jahrgang. 
Stuttgart, Juli 1906. 10 nummer 7. 
Das deutsche Dach. 
Jarakteristisch für die Gesamterscheinung 
ines Gebäudes ist in erster Linie das Dach. 
lachdem wir im vorhergehenden das Außere 
des hauses im allgemeinen besprochen haben, 
vollen wir uns mit dem Dach, welches den 
Abschluß des Ganzen bildet, etwas ein—⸗ 
gehender befassen. Das Dach soll das Haus 
chützen gegen die Einflüsse 
der Witterung, gegen Kegen, 
schnee und hitze. Je nach 
dem Landesstrich und seinem 
Alima wird daher auch die 
Ausbildung des Daches eine 
verschiedene sein. So kommt 
es, daß speziell in Deutsch⸗ 
and, wo wir uns nament—⸗ 
ich gegen Regen und Schnee 
zu schützen haben, das steile 
Dach herrscht, während es 
im so flacher wird, je wei— 
er wir nach Süden kom— 
men. Bei dem nordischen, 
peziell dem deutschen Dach, 
wollen wir diesmal länger 
»erweilen. In Deutschland 
ttand, dank seinem holz— 
reichtum, die Kunst des 
zimmermanns besonders in 
Zlüte. So kam es auch, 
)aß in keinem anderen 
Tande gerade die Konstruk— 
ion des Dachstuhles so 
yoch entwickelt ist. Wahre 
Wunderwerke der Zimmer— 
echnik besitzen wir aus 
rüheren Zeiten in den 
Dachkonstruktionen unserer 
ilten Kirchen, Rathäuser, 
ochlösser und anderer Bau— 
en. Eine Fülle von Schön— 
heit und originellen Gedan⸗ 
ken in den Dachformen ist 
iüber ganz Deutschland aus— 
gebreitet. Mochten die Stil— 
ormen mit der Zeit wech⸗ 
eln, das Dach gab dem Bau zu allen Perioden das ein— 
jeitliche, heimatliche und gut deutsche Gepräge. Wer ein—⸗ 
nal vom Straßburger Mäünfter oder pvon der Nürnberger 
Zurg oder vom Rathausturm in Rothenburg einen Blick 
uuf die Stadt getan hat, wird den Eindruck, den die Viel⸗ 
gestaltigkeit der Dächer macht, nie mehr vergessen. Doch 
vas braucht man so weit zu gehen, jedes alte schwäbische 
ztädtchen, das noch seinen alten Bestand erhalten hat, zeigt 
ins ein ähnliches Bild. Leider muß aber auch hier wieder 
ie dalte Klage laut werden, daß auch dem Dach gegenüber 
das Verständnis in den 
weitesten Kreisen unseres 
HDolkes völlig geschwunden 
zu sein scheint. Forschen 
wir der Ursache nach, so 
finden wir wieder den 
verhängnisvollen Einfluß 
der großen Städte. Dort 
fing man an, von der alten 
Tradition abzugehen. hat— 
ten schon gewisse Stilrich— 
tungen, die im Anfang des 
bergangenen Jahrhunderts 
bei uns die herrschaft ge— 
wannen, viel verschuldet 
durch Bevorzugung aus— 
ländischer und durch Miß— 
achtung der heimischen Bau— 
weise, so entstanden nament— 
lich beim Beginn des raschen 
Wachstums der Städte, und 
zwar speziell bei uns in 
Stuttgart, infolge schemati— 
icher baupolizeilicher Be— 
timmungen, wahre Miß— 
geburten von Dächern. Da— 
zu kamen noch während 
der Zeit der Stilhetze eine 
Unzahl fremder Einflüsse, 
so daß nach und nach von 
der alten Tradition fast 
nichts mehr zu finden war. 
Ceider wurde nun auf dem 
Cande von den in der 
Stadt großgezogenen Bau— 
meistern kritiklos alles von 
dorther Kommende ohne 
weiteres auch als vorbild⸗ 
ich und mustergültig angesehen, und so wurden jene Un— 
geheuerlichkeiten der Dachbildung auch auf die kleinen 
udstädte und die Dörfer verschleppt. Bald bildete kein 
Ecke Leonhard- und Weberstraße, Stuttgart. 
Architekt: Prof. Th. Fischer, Stuttqgart. 
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