68 Diese präsentische Milieuschilderung ist, obwohl sie einen Roman einleitet, im Unterschied zum Anfang des »Jürg Jenatsch«, eine echte Wirklichkeits schilderung. Und zwar weist sie sich als solche nicht etwa durch die geographi sche Örtlichkeit, sondern durch das Präsens aus, das kein historisches Präsens ist, sondern das (wenn auch undatierte) Jetzt bezeichnet, in dem der Erzähler erzählt — weshalb wir den Begriff Erzähler hier nicht in Anführungszeichen setzen. Denn der Erzähler ist hier eine reale Ich-Origo, er denkt sich in die Zeit zurück, wo er selbst in der geschilderten Gegend, die der Schauplatz der kom menden Romanhandlung sein soll, umhergestreift war —■ und es kommt dabei nicht darauf an, ob oder wieweit diese Erinnerung echt oder unecht, d. h. fin giert ist. Nur auf die Form des Erzählens kommt es an, die die einer Wirklich keitsaussage ist, die Aussage eines echten Aussagesubjekts und damit einer realen Ich-Origo; und nicht zufällig wird alsbald das anfängliche allgemeinere Personalpronomen »wir« (das ja in theoretischen Darstellungen oft benutzt wird) durch das persönliche der ersten Person ersetzt: Ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam mich jedesmal unbesieglich, so oft und gern ich zu dem märchenhaften See hinaufstieg . . . Oft entstieg mir ein und derselbe Gedanke, wenn ich an diesen Gestaden saß . . . Oft saß ich in vergangenen Tagen in dem alten Mauer werke . .. Auch das Imperfekt dieser Stelle ist wie das Präsens der vorhergehenden auf das Jetzt des Erzählers bezogen. Es gibt eine Vergangenheit seines Lebens, die Jugendzeit, an, in der er in jener Gegend umhergestreift war. — Dann wird die Beschreibung des in bezug auf den Ich-Erzähler gegenwärti gen Schauplatzes in einen für ihn historischen Bericht übergeführt, d. h. er versetzt sich nun mit seiner Phantasie in eine weiter zurückliegende, von ihm nicht mehr erlebte Vergangenheit zurück: Und nun, lieber Leser, wenn du dich satt gesehen hast, so gehe jetzt mit mir um zwei Jahrhunderte zurück. Das Bild der Burg, wie sie die Phantasie aus der gekannten Burgruine her stellt, wird dem Leser vor Augen geführt. Aber trotzdem beginnt damit die Romanhandlung noch nicht. Wir haben hier vielmehr ein literarisches Bei spiel für den logisch-sprachtheoretischen Unterschied zwischen einer Phan tasie und einer Fiktion, auf den oben bereits aufmerksam gemacht wurde: Denke weg aus dem Gemäuer die blauen Glocken und die Maßlieben und den Löwen zahn . . . streue dafür weißen Sand bis an die Vormauer, setze ein tüchtig Buchentor in den Eingang . ..