Die Sonderformen Aber auf der andern Seite können wir auch nicht ohne weiteres sagen, daß sie uns das Erlebnis der Fiktion, der Nicht-Wirklichkeit, vermittelt. Oder genauer: das Erlebnis der Nicht-Wirklichkeit, das dennoch in manchen Fällen von Icherzählungen, so ‘selbstaussagend’ diese auch sein mögen, sich unabweislich einstellt, wie etwa in Stifters >Nachsommer< und Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull« und vielen anderen, kann nicht logisch begründet werden wie im Falle der echten Fiktion, der Erzählung. Denn es gehört zum Wesen jeder Icherzählung, daß sie sich selbst als Nicht-Fiktion, nämlich als historisches Dokument setzt. Dies aber tut sie auf Grund ihrer Eigenschaft als Icherzählung. Um diese Verhältnisse klarzulegen, müssen wir wiederum den besonderen Ichbegriff ins Auge fassen, durch den die Icherzählung sich konstituiert. Dieser hat keine andere Form als jede Aussage in der ersten grammatischen Person, wie sie sowohl in jedem lyrischen Ichgedicht (sei es ein Rollen gedicht oder nicht) als auch in jeder außerdichterischen Ichaussage erscheint, von denen nun die nächstvergleichbare die ausgedehnte autobiographische Darstellung ist. Das heißt also: das Ich der Icherzählung ist ein echtes Aus sagesubjekt. Wir können dieses Ich dadurch noch genauer bestimmen, daß wir es mit gleicher Präzision von dem lyrischen Ich unterscheiden können wie das historisch-theoretische oder praktische Aussagesubjekt. Auch das Ich der Icherzählung will kein lyrisches Ich sein, sondern ein historisches, und es nimmt denn ja auch nicht die Formen der lyrischen Aussage an. Es erzählt Selbsterlebtes, aber nicht mit der Tendenz, dies als nur subjektiv Wahres, als sein Erlebnisfeld im prägnanten Sinne dieses Phänomens darzu stellen, sondern es ist wie jedes historische Ich auf die objektive Wahrheit des Erzählten ausgerichtet. Und wenn wir gerade diese Behauptung mit einem Blick etwa auf den >Werther< oder andere stark gefühlsgefärbte, sub jektiven Stimmungen Ausdruck gebende Ich-Romane (inbegriffen Brief romane) in Frage stellen, so ist darauf zu entgegnen, daß die gleiche Skala mehr oder weniger subjektiver und vice versa objektiver autobiographischer Berichte auch die ‘echte’ autobiographische Aussage (als Sonderfall jeder Aussage überhaupt, bei der, wie gezeigt, dieselben Verhältnisse vorliegen) charakterisiert. In der Tat ist es der hier sich ungesucht einstellende Begriff der ‘echten’ Wirklichkeitsaussage, der zu der spezifischen Dichtungsart hinleitet, die die Icherzählung darstellt. Sein Gegensatz ist die unechte Wirklichkeitsaussage, die gleichbedeutend mit der fingierten Wirklichkeitsaussage ist. Der Begriff des Fingierten, der auch für das Rollengedicht wesensbestimmend ist, be zeichnet die Stelle des Dichtungssystems, an dem die Icherzählung ihren logischen Ort hat. Um zu erkennen, wie diese Stelle aussieht, muß nach drücklich auf den kategorialen Unterschied zwischen den Begriffen ‘fingiert’ 222