1903 ARCHITEKTONISCHE MONATSHEFTE Heft 4 gesetzte Studieren des Reichsten und Prächtigsten, ohne es zu wollen, zu einer Ueber- schätzung dieses Reichsten und Prächtigsten in der Praxis gelangt ist, so dass Reich- geschmückt und Schön leider fast gleiche Begriffe geworden sind, und es nötig ist, ganz ent- schieden nach Einfachheit zu streben, um aus dieser Richtung herauszukommen. Aber sicher spielt ein Drittes mit, ein instinktives, noch nicht überall klares Gefühl: die Sehnsucht nach nationaler Eigenart im Gegensatz zum bisherigen Internationalismus in der verflossenen Stilartenkopiererei, wie auch in der modernen Jugendstil- oder Ueberbrettlkunst. Man hat sich bald genug überzeugt, dass mit dem Ueberbordwerfen aller Traditionen und Gesetze und mit dem Führertum der Nicht-Sachverständigen in Architektur und Kunstgewerbe nicht viel gewonnen ist, dass die jubelnd be- grüsste Eigenart zwar allerlei interessante Experimente ver- anstaltet hat, dass sie aber zum grossen Teil doch nur Eigenunart war, in die sich obendrein der Reklamebacillus eingeschlichen hat, und dass eigentlich * seelischer Gehalt, dieses köstlichste Kleinod unsrer alten Kunst, sehr, sehr selten nur darin zu finden ist. Noch immer trägt das Neue den Stempel des Absichtlichen ebenso wie unser Kopieren a der alten Stilarten, noch immer SZ fehlt die unbefangene Frische HOP Fig. 3. Friesisches Haus auf Sylt. / Zn x X ZN ö A Apr ( ad und Herzlichkeit, die den Wer- Fig. 4. Hauberg bei Koldenbüttel nahe Friedrichstadt. ken unsrer Vorväter die innere Aehnlichkeit mit dem aus dem Herzen quellenden Volksliede verlieh. — Ueberbrettlchansons, das ist grossenteils das, was man erreicht hat, und die mögen ganz amüsant sein, dauernd herzerfreuend und herzerfreuend dauerhaft sind sie nicht. Man stelle sich nur einmal eine ganze Strasse im Ueberbrettlstil gebaut vor — man wird stets das Gefühl haben, sich in einer Reklameausstellung zu befinden, nicht in einer organisch er- wachsenen natürlichen Heimstätte normaler Menschen. Zu dieser der Gegenwart noch fehlenden Herzlichkeit, Innerlichkeit, Unbefangenheit und Natürlichkeit, die dauernd erfreuen, können wir nur dadurch gelangen, dass wir selbst uns herzlich, unbefangen und natürlich geben, dass auch wir in der Kunst wieder unsre Muttersprache reden: gut deutsch, ungesucht, ungeziert, volkstümlich deutsch, sogar gern ein wenig Dialekt, indem wir alles Auffallenwollen, alles Fremdparlieren, alles Gigerltum wie die Pest meiden, und indem wir innere Herzensbefriedigung suchen, statt sensationeller Knalleffekte. Wir müssen uns verantwortlich fühlen für unser Thun gegen- über unsrer Volksseele. Es muss unser Stolz sein, den Begriff deutsche Kunst« im Sinne ausgesprochen eigendeutscher Kunst gegenüber allem Fremden so hoch zu entwickeln, wie nur möglich, gerade im Gegensatz zu dem bisher meist beliebten Verfahren, durch möglichst viele fremde Anleihen dem deutschen Michel zu imponieren. Aber wo lernen wir deutsch, volkstümlich deutsch sprechen? Wo anders als an der alten volkstümlich deutschen Kunst. Nicht an der prunkenden, bisher stets in den Vordergrund gestellten Palastarchitektur, an den Prunkmöbeln und -geräten, sondern auf den Gebieten der deutschen Kunst, in denen das Eigendeutsche stets stark überwog, an der Kunst der Bauern und Kleinbürger, die, wie das selbstverständlich in Deutsch- land, zwar auch gern alles Fremde für besser hielten, aber es sich »nicht leisten« konnten oder es glücklicherweise falsch verstanden und dadurch deutsch blieben. Mit Staunen erkennen wir allmählich, wie diese bescheide- nen, bislang übersehenen Bauern- und Bürgerhäuser, soviel oder besser sowenig ihrer noch da sind, all das vereinen, wonach wir streben: einfache Schönheit, freundliche Wohnlichkeit, herz- liche Unbefangenheit, malerische Wirkung und vor allem das Beste, das, was all die andern Eigenschaften ihnen verlieh, volkstümliche nationale Eigenart — unaufdringlich, bescheiden, aber klar und bestimmt. Und im Kunstgewerbe ist’s gerade so. Auch da finden wir, namentlich in der Bauernkunst, alles vorhanden und unbefangen geübt, auf was unser modernes Kunstgewerbe besonders stolz ist: Solidität und einfache Zweck- mässigkeit, ehrliche fröhliche Unbefangenheit, Farbenfreude, Naturbeobachtung, Humor und wieder vor allem: Nationalität, Rasse, Volkstümlichkeit. Deutsch ist alles von A bis Z! Wie sehr ist es zu bedauern, dass unsre Kunstgeschichte erst jetzt ein Auge darauf wirft, wo das meiste bereits vernichtet oder der Vernichtung nahe ist, dass sie diese Grundlage unsrer wirklich deutschen Kunst, den Boden, der sie erzeugte und immer frisch erhielt, und diese unbefangensten Zeugnisse, in denen deutsche Volksart und Stammessonderart am deutlich- | sten sich aussprechen, bisher über die Achsel ansah! Denn das ist doch klar: Ist unsre deutsche Kunst Eigen- gewächs, ist sie nicht bloss ein Ableger der spätrömischen oder gallischrömischen Kul- tur, sondern die Fortsetzung der selbständigen heidnischen Urkunst unsrer deutschen Stämme, die sich zwar be- AN IA \ N NA einflussen liess, aber alle diese on AN . en . . N N NW Einflüsse ihrer bestimmten EN N wi c . NN N Eigenart unterworfen hat, die 8 stets deutsch geblieben ist Ye rn Al HE und nur in den einzelnen Stil- 8 GE LA wa SHE IM \ _phasen verschiedene Schattie- St „NIEREN rungen gezeigt hat, so müssen die Wurzeln, die Grundzüge ihrer besondern deutschen Eigenart am deutlichsten stets in der Kunst der Kreise zu Tage treten, die in Geblüt, Lebensart, Thätigkeit, Abseitsgelegen- heit u. dgl. der Urzeit am nächsten stehen das sind denn doch wohl unsre deutschen Bauern, die von uns allen noch ohne Frage am reinblütigsten sind. Und das Studium ihrer Kunst muss am geeignetsten sein, als Schlüssel zu dienen zum steten Herausempfinden des Eigendeutschen aus allen Formen in unsrer Kunst, insbesondere in den Kunstzweigen, die schon in primitiver Kunst eine Rolle spielen können, in Baukunst und Kunsthandwerk. Gewiss hat die städtische Kunst die bäuerliche beeinflusst, aber diese ist trotzdem eigen- artig geblieben und hat stets dem Urgermanischen näher ge- standen, als jene. Wo sind denn die Künste am erkennbarsten geblieben, die wir aus heidnisch-germanischer Zeit kennen, die Holz- baukunst, sowohl die primitive mit ihrem bunten Anstrich, als die hochentwickelte mit ihren reichen Schnitzereien, wie sie uns in den Berichten der byzantinischen Gesandten am Hofe Etzels geschil- dert wird, wo die alte Tö- pferkunst mit | ihren Kratz- = E . AT mustern, die Al w . Ta Kerbschnitze- AL . ‚AZ A rel U. a, WO AR x AZ ) N die ganze ur- tümliche pri- mitive For- menwelt? Sehen wir / 7 uns um ın Fig. 5. Angler Haus, Flensburger Gegend.