M. Dohle, A. Evers, C.v. Geisten, H.U. Wegener, Z. Szankay BEDINGUNGEN UND PERSPEKTIVEN DER STADT- TEILARBEIT Anm. der Redaktion: Die vorliegende Arbeit stellt eine auf Anregung der Redaktion ARCH- leicht überarbeitete Fassung dar (Stand: 10.12.71). Eine frühere Fassung ist beim So- zialistischen Büro Offenbach erschienen. VORBEMERKUNG Gegenwärtig gibt es in der Bundesrepublik verschiede- ne Ansätze zur Stadtteilarbeit. Sie unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen resultieren sie aus der Erkenntnis, daß trotz fortschreitender technologischer Entwicklung und wach- sendem gesellschaftlichen Reichtum soziale Schichten materiell und bewußtseinsmäßig deklassiert und in eine gesellschaftliche Randposition gezwungen sind. Zum anderen verfolgen sie das Ziel, die in zentralen Bereichen zurückgebliebenen bürgerlichen Schichten zu mobilisieren. Sie operieren dabei mit den Begriffen "Chancengleichheit, Demokratisierung und Emanzipa- tion". Beiden Ansätzen ist gemeinsam, daß sie den Reproduk- tionsbereich (Sozialisation, Versorgung, Wohnen, Kon- sum, Freizeit...) weder im theoretischen Anspruch noch in der politischen Agitation verlassen. Kommuni- kation und Mobilisierung werden erleichtert durch die in diesem Bereich gemeinsam erlebten Benachteiligun- gen. Dort, wo diese Modelle theoretisch fundiert sind, ver- suchen sie Konflikte im Reproduktionsbereich zu ver- mitteln an den Widersprüchen im Produktionssektor und können daher auch die Verschärfung dieser Konflikte in ihre Inhalte miteinbeziehen. Doch bleiben Diskussionen und Agitationen in den Gren- zen sozialpsychologischer, soziologischer und sozial- staatstheoretischer Kategorien beschränkt. Die Veränderung des eigenen Bewußtseins (individuelle Emanzipation), die Umwälzung der unteren Entscheidungs- ebenen (Demokratisierung der kommunalen Verwaltung) und die Bildung von Kadern aus den Randgruppen, diese Veränderungen betreffen den Überbau: das Bewußtsein, das Recht und die Verteilung. Den entsprechend bürgerlich-politischen Forderungen - und als solche entlarvt sich z.B. die Randgruppenstra- tegie, wenn sie die eigene bürgerliche Sozialisation auf proletarische Verhältnisse projiziert - steht die "un- politisch" spontane Arbeiterbewegung in den Betrieben gegenüber. Hier wird an symbolischen Werksbesetzungen deutlich, daß Klassenbewußtsein noch wirksam ist, während dort im Reproduktionsbereich, der Staat als vermittelndes, regulierendes Instrument begriffen wird, dessen Ein- griffsmöglichkeiten in Konfliktsituationen bestimmt werden durch die Partizipation bisher sprachloser Gruppen. ARCH+ 15 (1971-3) Die Kommunistischen und (damals) Sozialdemokrati- schen Parteien haben ihre politische Arbeit in beiden Bereichen organisiert. Die Straßenzellen konnten die Entwicklung der Preise und die politische Unterdrückung relativieren und zurückführen auf die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung in den Betrieben. Diese auch heute notwendige Vermittlung erfordert die richtige Einschätzung der politischen und ökonomischen Prozesse im Reproduktionsbereich: die für diesen Be- reich relevante Entscheidungsebene lokalisieren und von der Produktionsseite her zu begründen, ist der Versuch dieser Arbeit. Die für diese Einschätzung entscheidenden Prozesse sind zwar theoretisch ableitbar; dennoch: eine anfäng- liche Gliederung, in der wir dies versuchten, bröckelte an drei Stellen auseinander. Deshalb haben wir uns auf vier Einzelkapitel beschränkt, deren analytischer Inhalt nur eine Seite der Stadtteilarbeit unterstützen kann: den theoretischen Ansatz. Die Praxis im Wohnbezirk, die Kampagnen im Reproduktionsbereich, sind die Voraus- setzungen zur Bildung des Klassenbewußtseins. Die daraus gewonnenen Erfahrungen sind regional verschie- den und können nicht unmittelbar verallgemeinert wer- den. Der Inhalt dieser Arbeit 1äßt sich wie folgt umreißen: 1. Das Verhältnis von Produktions- und Reproduktions- bereich hat sich historisch gewandelt. Deshalb sind Ansätze zur Organisierung sozialistischer Arbeit in diesen Sektoren historisch bedingt und können heute als Erfahrungen nutzbar gemacht werden. Die politisch-ökonomische Entwicklung des Kapita- lismus hat heute spürbare Konsequenzen für die Reproduktion der Arbeitskraft und führt dort zu einer Umstrukturierung, die kleinbürgerlichen Schichten mehr und mehr miteinbezieht. 3 Disparitäten lassen sich nur verkürzt aus dem Re- produktionsbereich erklüren. Sie sind - wie am Bei- spiel der Arbeitsemigration gezeigt wird - eine Seite der Verwertung von Arbeitskraft. Es besteht die Gefahr, daß unter dem jetzigen theo- retischen Stand der Reflexion und praktischen Or- ganisation die isolierten Ansätze der Stadtteilarbeit entweder von reformerischen Strategien integriert werden oder in voluntaristischen Zirkeln, isoliert von der Masse, verkommen. Aachen, WS 1970/71 21