Man könnte ein Abflachen dieses Niveaus befürchten, wenn Carlberg sich den einzelnen Schwerpunkten — wie Wohnungsmarkt, Arbeiten in der Stadt, Verkehr, Stadtentwicklung, Grund- stücksmarkt, öffentliche Wirtschaft u.a. — zuwendet; aber gefehlt. Es gelingt ihm mühelos, das einmal erreichte Niveau zu halten; dazu seien einzelne Beispiele herausgegriffen: 8 Carlberg konstruiert Zusammenhän- ge bei Parallelentwicklungen, wo eine unmittelbare Verknüpfung nicht zwangs- läufig ist: „Der Markt und die Maßnah- men des Staates haben dazu geführt, daß sich die Versorgung mit Wohnraum verbessert hat. Hand in Hand damit wächst der Teil des verfügbaren Ein- kommens, der für Wohnzwecke ausge- geben wird” (S. 19). ® Selbst grundlegende Aussagen der bürgerlichen Ökonomie werden zu- mindest verkürzt dargestellt: niemand wird bestreiten wollen, daß zwischen verfügbarem Einkommen und Zahlungs- bereitschaft ein Zusammenhang be- steht. Allein entsche’dend ist das verfüg- bare Einkommen nicht für die Zahlungs: bereitschaft (S. 19). Wie sollte sonst un- terschiedliche Zahlungsbereitschaft bei gleichem Einkommen erklärbar sein? 8 Was als Vereinfachung gedacht sein mag, wird durch den Grad der Ab- straktion falsch: Die Darstellung der Stadtentwicklung vermittelt den Ein- druck, als sei die Verdrängung der Indu- strie durch Wohnnutzung eine typische Phase von Stadterweiterungsprozessen (S. 77 f., Grafik) Die Empirie spricht da- gegen. a Die vom Verfasser für sich in Anspruch genommene Problematisierung der modernen Stadt, „ohne einseitig politisch Stellung zu nehmen” (Vorwort), führt weder zu politischer Enthaltsamkeit noch zu klarer Darlegung und Analyse. Die oberflächliche Gegenüberstellung gegen- sätzlicher Argumentationen läßt deren Herkunft und deren analytischen Hinter- grund völlig im Dunkeln. Gleichwohl „zeigt’’ Carlb:rgs platte Gegenüberstel- 'ung und die (wichtige, aber hier) nicht fundierte Abgrenzung von Nachfrage und Bedarf „die Vorzüge der Marktfor- schung auf” (S. 21). Es ließen sich mühelos weitere Bei- spiele dafür bringen, in welch profunder Weise die bürgerliche Stadtökonomie ad absurdum geführt wird. Es drängt sich nachgerade der Verdacht auf, Carlberg sei ein Linksradikaler, der versucht der bürgerlichen Stadtökonomie den Garaus zü machen. Nach all dem mag man sich an Kleinigkeiten wie Stil, fehlenden De- finitionen (Kapitalkoeffizient, externe Effekte — es soll ja auch ein Buch z.B. für Architekten sein) und ähnlichem bei diesem eher hingeschludert erschei- nenden Buch gar nicht mehr stören. Wer wirklich an einer Einführung in die Stadtökonomie interessiert ist, bleibt nach wie vor auf die angelsächsische Literatur angewiesen. D. Henckel Berichte: Dietrich Stahlbaum Sonntagsfotografie oder Fotografie als Waffe? Fast jeder von uns besitzt einen Fotoap- parat und kann damit umgehen. Aber dieser Apparat liegt meistens im Schrank, in einer Schublade, in irgendeiner Ecke ... Manchmal, und da muß schon die Son- ne scheinen, wird er hervorgeholt: am Sonntag, im Urlaub an der See und im Gebirge. Oder Weihnachten zum Bei- spiel, wenn am Tannenbaum die Kerzen brennen und die Geschenke ausgebreitet sind. Schauen wir uns einmal die Dias und Fotoalben an: Da sehen wir, am Lago Maggiore, die Boote der Fischer (wie leben die italienischen Fischer? ) — die Fischerboote also, am Ufer festgemacht; davor steht man selbst, 2in deutscher Tourist, in der Pose eines Eroberers. Oder hier: die Säulen der Akropolis (erbaut von Kriegsgefangenen, von Skla- ven, zu Tausenden an den Peitschenhie- ben ihrer Bewacher, an Hunger und Durst zugrundegegangen) — die Säulen der Akropolis also; davor steht man selbst, ein deutscher Tourist, wie ein Zeus. Oder hier: die Küste bei Brest. Herrli- che Felsen, darauf die Freundin als — Meeresjungfer. Das Foto von den verkrusteten Öl- resten an den Felsen, man sieht sie bei Ebbe ; — das Foto von den schwarzen Schandmalen in der Natur fehlt im Al- bum. Es wurde nicht gemacht. Oder dieses Bild: Vater, im besten Anzug, lässig an seinen neuen, frischge- waschenen und polierten Wagen gelehnt, in der Fose eines Generaldirektors. ‚„Wochentags bin ich Autoschlosser. Knochenarbeit. Der Dreck unter den Fingernägeln verschwindet erst nach drei Wochen Urlaub. Den Wagen kann ich mir nur halten, weil ich Überstunden mache, in meiner Freizeit Autos repariere und mein Fahrzeug selber instand halte. Eigentlich gehört es mir noch gar nicht: es läuft auf Wechsel. Den muß ich pünkt- lich alle vier Wochen einlösen.” Das steht nicht unter dem Foto. Aber damit wären wir bei der SOZIALFOTOGRAFIE. Sie ist etwas anderes als das, was in Mas- sen auf Fotopapier und in Diarahmen verewigt wird. Ein anderer Autoschlosser. Eines Ta- ges steckt er seinen Fotoapparat in die Brottasche und geht in den Betrieb. Er hat mit dem Meister gesprochen und seine Kollegen eingeweiht. Er hat lange geredet, bis alle Bedenken, alle Einwän- de vom Tisch waren. Und so fotografiert er die Kollegen bei der Arbeit und in den Pausen. Abends fährt er zu einem von ihnen nach Hause, fotografiert ihn während der Heimfahrt, beim Essen und beim Ge- spräch mit der Familie. Sie sitzen im Wohnzimmer. Diesmal ist das Pantoffelkino abgeschaltet. Es gibt Interessanteres zu bereden. Sie haben ja eigene Erfahrungen und die sind mit einem Mal wichtiger als das, was ihnen sonst vorgeflimmert wird. Der Arbeitsplatz zum Beispiel, die Arbeitslosigkeit, Streß und Verschleiß, die Familie, ihre Kinder, deren Proble- me: die SOZIALE SITUATION — da kennen sie sich aus, besser als die Pro- gramm- und Meinungsmacher, die Redak: teure, Manager, Aktionäre, Bankiers. Haben wir nichts zu sagen? Sind wir nicht DAS VOLK? Das Gespräch wird auf Band aufgenom- men. An einem Samstag besucht er wieder seinen Kollegen und fotografiert dessen Frau bei der Hausarbeit und die Kinder bei den Schularbeiten und beim Spiel. Er gehört einer Gruppe von Sozial- fotografen an. Sie hat Geld zusammen- gelegt und im Keller eines Gruppenmit- glieds ein Fotolabor eingerichtet. Dort werden die Filme entwickelt und die besten Fotos vergrößert. Die nötigen Kenntnisse haben sie sich selber angeeignet. Dabei halfen ihnen erfahrene Sozialfotografen. Vom Tonband werden die wichtig- sten Aussagen abgeschrieben und den Fo- tos zugeordnet. Fotos und Texte wer- den auf Plakatpappe geklebt. Einer von ihnen schreibt zu den Fotos eine Repor- tage, ein anderer eine Kurzgeschichte. Ihre Fotos, das Tonbandmaterial und die eigenen Erfahrungen — das ist der Stoff, mit dem sie arbeiten. Die Fotodokumentationen stellen sie aus: in Kommunikationszentren, auf Straßen und Plätzen, in Stadtteilen und Arbeitersiedlungen, bei Volksfesten, Ver- anstaltungen von Bürgerinitiativen, poli- tischen Versammlungen. Ihre Reportagen und Kurzgeschich- ten werden vorgelesen und die Fotos da- zu an eine Leinwand projiziert. Sozialfotografen arbeiten für Alternativ- zeitungen und veröffentlichen in alter- nativen Verlagen. Ein Beispiel ist das Jahrbuch der sozialdokumentarischen Fotografie ALLTAG, dessen erste Aus- gabe 1978 in Hamburg erschien2. Nicht von Sonn- und Feiertagen wird unser Leben bestimmt, sondern von den Bedingungen am Arbeitsplatz, von den Verhältnissen in unserer Gesellschaft: von der ALLTAGSWIRKLICHKEIT. Rücken wir dieser — ungeschminkten — Wirklichkeit mit dem Fotoapparat zu Leibe! Zeigen wir, wie wir arbeiten und leben! Trennen wir uns von den Illusio- nen, die uns daran hindern, der gesell- schaftlichen Realität ins Gesicht zu sehen und sie zu verändern! Fotogra- fieren wir KRITISCH diese Realität! So wird Fotografie zu einer „Waffe in der sozialen Bewegung”’.3 Gründet Fotowerkstätten! Organisiert Euch! Arbeitet zusammen! 6