DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN FEUDAL- ] SYSTEM UND STÄDTEWESEN BRINGT DIE KIRCHE IN TURBULENZEN ®1 Der Holzschnitt von Lichtenberger für „Prognostica- tio in latino...‘“, (1488) stellt die Kirche als schwankendes Schiff dar. ®2 In der Pfarrkirche von Ingolstadt schwebt ein offenes Schlinggewölbe vor einem komplizierten Netz- werk, (um 1530). @3 Der Prager Hradschin enthält eini- ge Gewölbe, deren Rippen gerade dort unterbrochen sind, wo man einen konstruktiven Zusammenhang vermuten würde, (um 1530). @4 Im Braunschweiger Dom entwik- kelt sich das Schirmgewölbe aus einem quirlförmig ver- schraubten Bündelpfeiler über mehreren zersplitterten Platten, (um 1475). @5 Ein Glasfenster in Chartres zeigt, wie ein Baumeister bereits Ende des 13. Jhdts. sein Metier dargestellt fand. ®@6 Der Widersinn, daß ein Gewölbe nur deshalb hält, weil alle Teile fallen, beflügelt die dekon- struktive Phantasie, wie z.B. an einem hängenden Schluß- stein im Prager Dom. @7 Die böhmischen Zellgewölbe führen Anfang des 16. Jhdts. vor, was übrig bleibt, wenn . man alle konstruktiven Elemente - Dienst, Kapitell, Rippe = “ und Schlußstein — einfach wegläßt. DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN ÜBERSCHAU- j BAREN KRONLÄNDERN UND WELTWEITEN EROBERUNGEN RUINIERT DIE WELT ®8 Diese Welt stellt sich Hermskerk in einer „Allegorie der Natur“ als riesigen Satelliten vor, der mit Werkzeugen aller Art übersät und geschunden ist und in bedrohlicher Nähe über die Natur hinwegrast (1572). @9 Ein neues Werkzeug waren die mittelschweren Feuerwaffen, die im 16. Jahrhundert aufkommen. Ihnen hält keine Befesti- gungsanlage mehr stand, denn die Ballistik der Kanonen erfordert die Konstruktion neuartiger Festungen und de- ren Dekonstruktion durch Belagerungswerke. Hier das Beispiel der Erstürmung einer stumpfwinkligen Bastion (Speckle, 1589). @10 So wie die Dekonstruktion in Gulli- vers Reisen nur die Größe des Helden verändert, so ver- rückt sie im Garten von Bomarzo einzig die Schwerkraft des Folie, (um 1570). @11 Das umgekehrte Verfahren, nämlich nur Details grotesk zu dekonstruieren, verwendet Ditterlin; hier das Tor eines Jagdhauses (1598). @12Wie- der anders verfahren die Baumeister des Schlosses Cham- bord. Sie lösen die Dächer nahezu vollständig auf durch die Häufung unerwarteter Synmmnetrien und den absonderli- chen Gebrauch geometrischer Formen (um 1570). ‘DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN DEN UNTER- SCHIEDLICHSTEN DOGMEN DER THEOLOGIE UND DEN GEOMETRISCHEN IDEALEN DER NATURPHILOSOPHIE VERWANDELT DIE . WELT IN EINE TRAGISCHE BÜHNE 913 Die Kartusche aus einer Bilderbibel (Krauss, 1705) zeigt Daniel, seine Freunde und Lehrer umzingelt von den Instrumenten babylonischer Wissenschaft. Unklar bleibt, wie man über Offenbarungen aus diesem Teufelskreis her- ausfände (Vgl. Dan 1+2). @14 Vielleicht wird die Fonta- na Trevi in Rom deshalb von Hunderttausenden jährlich besucht, weil man hier eine kollosal geordnete Architektur aus den erfrischenden Tiefen der Dekonstruktion bewun- dern kann (Salvi, um 1750). @15 Der Saal der Villa Arco- nati zeigt, daß sich die Welt auch umgekehrt dekonstru- ieren läßt: vom Himmel über die Wände zum Boden hin. ®@16 Wem die „Austragung von Treppenkrümmlingen“ nicht dekonstruktiv genug erscheint, möge zeitgenössische Traktate über Steinschnitte ansehen (Horst, 1763). @17 Mathematische Studien ermöglichten erst das Paradoxon einer systematisch dekonstruierten Architektur. Hier Kuppel, Tambour und Pendantif der Kirche Santa Maria di Piazza in Turin (Vittone, 1751). @18 Die grafisch ver- schlungenen Wege, die Gärtner im 18. Jh. dekonstruktiv anlegten, wirken dagegen eher harmlos: ästhetisch von oben — verwirrend von unten. DE: A} I