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treter des nouveau roman, reserviert denn auch den Begriff des Erzählers für
den Ich-Erzähler und nennt, fast überraschenderweise, aber unsere Theorie
bestätigend, die Er-Erzählung einen »Bericht ohne Erzähler« 92 . Doch ist in
der traditionellen Rede vom Erzähler ein Er-Erzähler gemeint. Und was nun
diesen Terminus betrifft, so ist es für die Beschreibung des Dichtungssystems,
die Erkenntnis seiner sprachtheoretisch strengen Ordnung zweckdienlich,
wenn man den Begriff des Erzählers nicht mit der verwirrenden Zweideutigkeit
belastet, ihn sowohl für den Epiker wie für das erneiv verwendet, sondern
ihn allein für den ersteren reserviert. Er ist gleichzuordnen den Begriffen
Dramatiker, Lyriker, ja weiterhin Maler, Bildhauer, Komponist—, d. h. als
Bezeichnung der Kunstart, die ein Künstler vertritt, aber nicht des Kunst
mittels, dessen er sich bedient.
Die Rede von der »Rolle des Erzählers« ist denn auch in der Tat ebensowenig
sinnvoll wie es die von der Rolle des Dramatikers oder Malers wäre. Über die
für ihre Zeit höchst bedeutsamen und literaturtheoretisch fortschrittlichen
Erkenntnisse, die Käte Friedemann in ihrem bekannten Buche mit diesem Titel
(1910), in Opposition gegen die Spielhagensche >Objektivitätstheorie<, ent
wickelt hat, ist man auch heute nur selten hinausgekommen. K. Friedemann
hat gewiß den >Erzähler< als »organisch mit der Dichtung selbst verwachsenes
Medium« richtig bestimmt. Aber weil sie die funktionale Art dieses Mediums
naturgemäß nicht durchschaut hat, ist es nur scheinbar richtig, wenn sie sagt:
»Er ist der Bewertende, der Fühlende, der Schauende. Er symbolisiert die seit
Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung, daß wir die Welt nicht be
greifen wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachten
den Geistes hindurchgegangen« 93 , oder wenn gar gefragt wird: »Wie gelangt der
Dichter zur Kenntnis des Seelenlebens der Gestalten ?« 94 Wenn dann dreißig
Jahre später J. Petersen diesen Aspekt so ausmalt, daß er den Erzähler mit einem
92 M. Butor, Der Gebrauch der Personalpronomen im Roman (in: Repertoire 2, München
1965): »Wenn ein Bericht ganz bei der dritten Person bleibt (außer in den Dialogen natürlich),
bei einem Bericht ohne Erzähler, spielt der Abstand zwischen den erzählten Ereignissen und
dem Augenblick, da sie erzählt werden, keine Rolle« (S. 97). Damit stellt Butor, als weitere
willkommene Bestätigung unserer Dichtungstheorie, den Zusammenhang zwischen der fik-
tionalen Erzählfunktion und der Zeitlosigkeit der Fiktion fest, wie er denn auch an dieser
Stelle fortfährt: »Die Zeit, in der er (der Bericht) abläuft, ist also indifferent gegenüber seiner
Beziehung zur Gegenwart; es ist eine Vergangenheit, die vom Heute ganz abgeschnitten ist,
doch die sich nicht mehr weiter entfernt, es ist ein mythischer Aorist, im Französischen das
Passe simple.«
93 K. Friedemann, Die Rolle d. Erzählers in der Epik, Leipzig 1910 (Neudruck 1967),
S. 26
94 Ebd., S. 77