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Erzählens ordnen. Denn wir befinden uns im Dialogsystem des Romans, das
eins der zentralen Stücke des Fiktionssystems oder -feldes ist. Diese Betrach
tungen erscheinen sogleich als Angelegenheiten der Person, nicht des Erzäh
lers (im Sinne von Verfasser). Aber eben dieses Phänomen ist ein, wenn auch
indirekter, so doch eben deshalb besonders überzeugender Beweis dafür, daß
auch das Erzählen des Erzählers die Angelegenheit der fiktiven Personen und
nicht sozusagen die seine ist. Dies zu zeigen, ist gerade der Goethesche Stil
besonders geeignet. Die Gespräche der Personen zeigen im wesentlichen keinen
anderen Stil als das Erzählen. Ohne weiteres können wir die Betrachtungen
unserer beiden Beispiele vertauschen, Beispiel 2 zum Erzählbericht machen,
Beispiel 1 von »Der Mensch kann in keine gefährlichere Lage versetzt werden«
an in einen Dialog einordnen. Das geht hier besonders gut, weil der Dialog-
Stil des »Wilhelm Meister« wenig personindividualisierend ist; aber auch hier
handelt es sich nicht um Art- sondern nur um Gradunterschiede. Hier ist die
Grenze zwischen der Erzählsubstanz und der Dialogsubstanz des Romans
schwach markiert, aber gerade dies zeigt, daß die Funktion des Erzählens zu
letzt keine andere ist als die der Dialoggestaltung wie auch, naturgemäß, des
Selbstgesprächs und der erlebten Rede. Wenn überhaupt gefordert werden
konnte, daß der >Erzähler< möglichst verschwinden, der Roman in ein Dialog
system aufgelöst werden solle 103 , so war dies nur deshalb theoretisch möglich,
weil auch die Erzählfunktion, genauer gesagt die berichtende Erzählfunktion,
nur eins der Gestaltungsmittel der gesamten fiktionalen Gestaltungsstruktur ist
—- und aus diesem Grunde auch mit einem der anderen Gestaltungsmittel ver
schmelzen kann. Dieser Fall tritt vor allem deutlich bei der erlebten Rede ein.
Wenn die erlebte Rede uns oben (s. S. 74 ff.), im Zusammenhang der Tempus
fragen, entscheidend über die Verhältnisse der fiktiven Ich-Originität auf
schlußreich war und den schlagendsten Beweis dafür erbrachte, daß das fiktio-
nale Erzählen sich an den Verben der inneren Vorgänge herstellt, so dient sie
uns mm, und zwar natürlich nicht zufällig, sondern in engem Zusammenhang
mit diesen Verhältnissen, zur Erkenntnis der fiktionalen Erzählfunktion selbst.
Es ist schon mehrfach beobachtet worden, daß sich die Form der erlebten Rede
103 Nicht erst Spielhagen hat diese Forderung gestellt, sondern bereits Aristoteles, der
Homer deswegen lobt, weil er so wenig wie möglich »selbst«, d. h. als Erzähler, rede, sondern
so bald wie möglich einen Mann oder eine Frau auftreten lasse. Nach Spielhagen ist die For
derung топ Ortega у Gasset (Gedanken über den Roman, dt. in : Die Aufgabe unserer Zeit,
Stuttgart 1930) und Henry Green (Verständigung, dt. in : Die Neue Rundschau, 1951) erhoben
worden. — Zu Spielhagen vgl. die gute kritische Arbeit von W. Hellmann, Objektivität,
Subjektivität und Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens (in: Wesen und
Wirklichkeit, Festschrift f. H. Plessner, Göttingen 1957).