indem wir dies in der Allgemeinheit dieser Begriffsbildung aussprechen, treten
die ersten Schwierigkeiten auf, melden sich Ungenauigkeiten und Unstimmig
keiten an, die in der traditionellen Betrachtungsweise enthalten sind. Sehen wir
ab von der rein biographischen oder soziologischen Quellen- und Hinter
grundsforschung, die auch den Schlüsselroman und das Personengedicht ein
bezieht, so stellt sich in der Zusammenordnung Dichtung und Wirklichkeit
sozusagen stillschweigend die Beziehung auf die erzählende und die drama
tische Dichtung her, doch ohne daß man den Begriff Dichtung auch bewußt
und ausdrücklich auf diese beschränkte. Dennoch wird das dritte Gebiet
dessen, was die Poetik und das allgemeine Bewußtsein als Dichtung versteht,
die Lyrik, nicht, oder doch nicht unmittelbar, in die Begriffszuordnung Dich
tung und Wirklichkeit einbezogen. Diese ist denn auch in der Tat sinnvoll nur
mit Bezug auf die beiden ersten Gattungen, während die Lyrik kein Demon
strationsmaterial dafür abgibt. Daß aber dieser Umstand nicht zu einem eigent
lichen Problem wurde, hat offenbar seine Ursache darin, daß die Begriffe Wirk
lichkeit und Dichtung, so wie sie hier zusammen auftreten, keiner genaueren
Bedeutungsanalyse unterzogen worden sind. Der Begriff der Dichtung aber
stellt sich in seinem keineswegs eindeutigen Sinne erst her, wenn der der
Wirklichkeit, in seinem hier in Frage stehenden Bezüge zur Dichtung, zur
Klärung gekommen ist. Diese Klärung ist die Aufgabe der folgenden Unter
suchung.
Aber an diesem Ausgangspunkt unserer Problemstellung, und als ein Auf
takt zu ihr, soll auf einen großen Kronzeugen verwiesen werden, dessen sozu
sagen noch unreflektierte, aber darum um so aufschlußreichere Einsicht in
diesem Punkte bisher verdeckt geblieben ist: auf Aristoteles. Man hat allge
mein die Tatsache, daß er in seiner »Poetik« nur Epos und Drama, nicht aber
die Lyrik behandelt hat, auf den. fragmentarischen Charakter des Werkes
zurückgeführt, oder auch angenommen, daß Aristoteles die große griechische
Lyrik des 6. und 5. Jahrhunderts darum nicht erwähnt, weil diese »gesungene«
Poesie, d. h. von Instrumentalmusik begleitete gewesen sei und damit zur
Musik zählte 6 . Doch erwähnt Aristoteles, wie wir gleich sehen werden, ge
sungene Poesie, nämlich den Dithyrambus, und sogar reine Instrumentalmusik
als solche, aber eben der Zusammenhang, in dem dies geschieht, weist darauf
hin, daß er diese nicht zur Lyrik, sondern eben zur noir]aiq zählte, daß gerade
das, was wir als lyrische Dichtung, und sogar als >Poesie< im eigentlichen Sinne
bezeichnen, für Aristoteles keine >Dichtung<, nämlich nolt]aiz, war, sondern
einem anderen Gebiete von >Sprachwerken< angehört.
6 Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Halle 1940, S. 4