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Die dramatische Formel, daß das Wort im Medium der Gestalt steht, be
sagt, daß primär nicht am Wort selbst, sondern am Problem der Gestalt der
Ort des Dramas zu bestimmen ist. Hierin aber ist es begründet, daß die
Logik des Dramas nicht ohne erkenntnistheoretische Gesichtspunkte aus-
kommen kann — worin eben beschlossen ist, daß, wie soeben angedeutet,
das Problem der Wirklichkeit selbst von einer gewissen Relevanz für die
Erhellung der dramatischen Struktur ist.
Die dramatische Gestalt ist, wie bereits ausgesprochen, so gebaut, daß sie
nicht nur, wie die epische, im Modus der Vorstellung existiert, sondern dazu
bestimmt und angelegt ist, in den Modus der Wahrnehmung (der Bühne)
hinüberzutreten, d. h. also in dieselbe physikalisch definierte Wirklichkeit
wie die des Zuschauers. Dies aber bedeutet, daß sie unter dem doppelten Ge
sichtspunkt der Dichtung und der (physischen) Wirklichkeit entworfen wird
und sie geprägt ist von den Erscheinungsformen, die dieser Umstand, die
physische Verwirklichung oder Verkörperung der Fiktion, mit sich führt 122 .
Der Aspekt aber, der sich daraus ergibt, tritt keineswegs erst in die Erschei
nung, wenn wir das Drama auf der Bühne sehen. Sondern dies ist für die Logik
des Dramas das Entscheidende, daß es bereits als gedichtetes unter diesen
beiden Modi steht.
Daß das Wort im Medium der Gestalt steht, enthält zweierlei einander
bedingende, aber dennoch invers entgegengesetzte Aspekte. Es bedeutet,
daß das Wort Gestalt und die Gestalt Wort wird. Aus diesen beiden Formeln
ist der eigentümliche Zusammenstoß der Fiktionsebene und der Wirklich
keitsebene abzulesen, der die Bedingung der dichterischen Existenz und
Erzeugung der dramatischen Gestaltenwelt ist.
Die Formel, daß das Wort Gestalt wird, und nichts als diese, ist der Aus
druck der Gegenständlichkeit, ja Dinglichkeit der dramatischen Personen,
die sich konstituiert durch das Verschwinden der Erzählfunktion, die Auf
teilung des darzustellenden Stoffes an frei sich darstellende und sich äußernde
Personen. Damit gewinnen sie aber eben den Aspekt, den auch die wirklichen
Menschen im Raume der physischen Wirklichkeit haben, die >Anderen<, die
außer und vor mir befindlichen Menschen, die ich sehe, höre, mit denen ich
spreche. Sie sind Objekte, Dinge, wenn auch ich-beseelte, für mich, die mir,
denen ich gegenüberstehe, derart, daß ich niemals ein ganzes, ein vollkomme
nes Bild von ihnen gewinnen kann, nur das von ihnen weiß, wodurch sie
122 Vgl. meinen früheren Aufsatz »Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen
Dichtung« (DVjs XXV, 1951, H. 1), aus dem hier nur das für die Bestimmung des dichtungs
logischen Ortes des Dramas Wesentliche aufgenommen ist.