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Eigentümlich genug hat die äußerste Konsequenz, die Bühnenwirklichkeit aus
der Struktur der dramatischen Dichtung zu eliminieren, erst mit Hilfe derTechnik
vollzogen werden können. Das Hörspiel dürfte die einzige Form sein, die den
zweiten Aspekt der dramatischen Formel, daß die Gestalt Wort wird und nichts
als dieses, ganz rein verwirklicht oder zu verwirklichen scheint. Die Proble
matik des Hörspiels aber besteht darin, daß die szenische Verkörperung und
damit die Wahrnehmbarkeit auf das hörende Wahrnehmen reduziert ist. Und
dieses bewirkt, daß die Gestalten der Dichtung selbst dadurch in ihrer beson
deren dichterischen Seinsweise reduziert werden. Das Hören nimmt eine
eigentümliche Zwischenstellung zwischen dem Sehen und dem Lesen eines
Dramas ein. Die hörende sinnliche Wahrnehmung schaltet die Vorstellung,
die durch die volle sinnliche Wahrnehmbarkeit völlig ausgeschaltet, beim
Lesen wiederum völlig eingesetzt ist, gewissermaßen auf Halbstärke ein. Das
Hören unterscheidet sich vom Lesen des Dramas dadurch, daß die Gestalten
durch die Hörspieler eine sozusagen innere Gestaltung erfahren, sie aber für den
Hörer nur durch die Verschiedenheit der Stimmen unterschieden werden
können. Dies ist ein irritierender Vorgang, dem manche das Lesen des Dramas
vorziehen. Und zwar deshalb, weil die reine Vorstellung die nur als redende
entworfenen Dichtungsgestalten zu ihrer leibseelischen Ganzheit ergänzt. Da
bei arbeitet die mehr oder weniger lebhafte, visuell vorstellende Phantasie
prinzipiell nicht auf andere Weise als beim Lesen eines Romans, nur daß bei
diesem die übrigens keineswegs in jedem Erzählstil ausgenützte Möglichkeit
gegeben ist, die Vorstellung genauer lenken zu können. Die halbe Versinn-
lichung aber, die das Hörspiel darbietet, hemmt die selbsttätige Vorstellung
ganz. Das Wort wird auch in der Vorstellung nicht mehr Gestalt, sondern
bleibt Wort und Stimme. Ja, gerade als stimmgewordenes Wort beraubt es das
reine literarische, nur durch seinen Sinn und nicht schon durch eine bestimmte
fremde Auffassung geprägte Wort seiner gestaltschaffenden Funktion.
Doch handelt es sich hier nun nicht um eine ästhetische Bewertung des Hör
spiels, der illusionären und abstrakten Bühne, kurz um die verschiedenen
Arten und Experimente der szenischen Verkörperung. Sie wurden kurz zu
charakterisieren versucht, um das verschiedenartige Verhalten der Ersatz
funktion sichtbar zu machen, die die Bühne in der dramatischen Gesamtstruk
tur darstellt, damit aber die Funktion der Wahrnehmbarkeit, auf die es dabei
strukturell allein ankommt. Denn die vieldiskutierte Problematik der Zeit hat
handen zu betrachten und die Simultandekorationen in ihrem räumliche Beziehungen bloß
symbolisch andeutenden Sinne aufzufassen (s. dazu Frey, Gotik, a. a. O., S. 192). Ganz ähn
lich verfährt in letzterer Hinsicht die abstrakte Bühne etwa Erwin Piscators.