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Die lyrische Subjekt-Objekt-Korrelation
Wir setzen an dem besonderen Grenzfalle des Novalis’schen Gebetgedich
tes weiter an und führen es, das fünfte der »Geistlichen Lieder«, zu diesem
Zwecke nochmals und zwar vollständig an:
Wenn ich ihn nur habe,
Wenn er mein nur ist,
Wenn mein Herz bis hin zum Grabe
Seine Treue nie vergißt:
Weiß ich nichts von Leide,
Fühle nichts als Andacht, Lieb’ und Freude.
Wenn ich ihn nur habe,
Lass’ ich alles gern,
Folg’ an meinem Wanderstabe
Treugesinnt nur meinem Herrn;
Lasse still die andern
Breite, lichte, volle Straßen wandern.
Wenn ich ihn nur habe,
Schlaf’ ich fröhlich ein,
Ewig wird zu süßer Labe
Seines Herzens Flut mir sein,
Die mit sanftem Zwingen
Alles wird erweichen und durchdringen.
Wenn ich ihn nur habe,
Hab’ ich auch die Welt;
Selig wie ein Himmelsknabe,
Der der Jungfrau Schleier hält.
Hingesenkt im Schauen
Kann mir vor dem Irdischen nicht grauen.
Wo ich ihn nur habe,
Ist mein Vaterland;
Und es fällt mir jede Gabe
Wie ein Erbteil in die Hand;
Längst vermißte Brüder
Find’ ich nun in seinen Jüngern wieder.
Wir fassen dies geistliche Lied nunmehr nicht als Gebet, sondern als lyrisches
Gedicht in dem definierten Sinne der Aussage eines lyrischen, sich als ein
lyrisches setzenden Aussagesubjekts ins Auge. Als solches ist es geeignet, zum
Ausgangspunkt für die Beobachtung des Prozesses zu dienen, der das Gedicht
hervorbringt. Dieser Prozeß ist, wohlverstanden, nicht als ein individueller,