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Gedichtes durch den Kontext des Gedichtes, das Gedichtsein des Gedichtes
selbst von jedem >lnteresse< — im Kantischen Sinne des ästhetischen Erlebens
— an dem Eigenwert, d. i. also hier dem Wirklichkeitswert dieses Was befreit.
Die Tatsache, die in unser Erlebnis des lyrischen Gedichtes eingeht, daß wir
einen möglichen, mehr oder weniger erkennbaren Objektbezug nur in seiner
Funktion für den Sinnbezug des Gedichtes in unsere Interpretation einbauen,
besagt nichts anderes, als daß wir grundsätzlich von jedem Interesse am Eigen
wert des Objekts befreit sind. Auf diese Weise antwortet der Erlebende des
Gedichtes, der Interpret, auf den Willen des lyrischen Ich: so wie dieses durch
den Kontext seinen Willen kundgibt, als lyrisches Ich verstanden zu werden,
lenkt dieser Kontext wiederum unser genießendes und interpretatorisches
Erlebnis. Wir erleben das lyrische Aussagesubjekt, und nichts als dieses. Wir
gehen nicht über sein Erlebnisfeld hinaus, in das es uns bannt 167 “. Dies aber be
sagt, daß wir die lyrische Aussage als Wirklichkeitsaussage erleben, die Aussage
eines echten Aussagesubjekts, die auf nichts anderes bezogen werden kann als
eben auf dieses selbst. Gerade das unterscheidet ja das lyrische Erlebnis von
dem eines Romans oder Dramas, daß wir die Aussagen eines lyrischen Gedich
tes nicht als Schein, Fiktion, Illusion erleben. Unsere verstehende, interpretie
rende Ergreifung des Gedichts ist eine in hohem Grade >nacherlebende<, wir
müssen uns selbst befragen, wollen wir das Gedicht verstehen. Denn wir
stehen ihm immer unmittelbar gegenüber, so wie wir der Äußerung eines
wirklichen >anderen<, eines Du, das zu meinem Ich redet, gegenüberstehen.
Eine Vermittlung irgendwelcher Art gibt es nicht. Denn es gibt nur das Wort
und nichts weiter (wobei hier von der oben erörterten Verabsolutierung der
>Wörter< abgesehen ist).
Wird dies behauptet, so muß einen Augenblick angehalten und nochmals
ein vergleichender Blick auf die andere, die fiktionale Gattung der Wortkunst
geworfen werden. Zeichnet es das lyrische Gedicht und unser Erlebnis von
ihm aus, daß wir uns an dem Wort zu orientieren haben? Das Wort, die Sprache
ist ja das >Material< aller Dichtung, und eben sie ist oder scheint es zu sein, die
die Gattungen zu einer Kunsteinheit vereinigt. Eben an diesem Punkte aber
tritt es deutlicher als an manchen anderen hervor, daß wir dieses Material nicht
bloß als solches, als ein in den Gattungen homogen wirksames zu betrachten
157a Wenn H. Lehnert in seinem Buch »Struktur und Sprachmagie. Zur Methode der
Lyrik-Interpretation«, Stuttgart 1966, das lyrische Ich als einen Prozeß der Identifikation des
Autors mit dem Leser (oder Hörer) auffaßt (vgl. S. 47, 57, 67, 120), so scheint mir der
Vorgang der Interpretation, der das Thema des Buches ist, doch zu stark als Strukturelement
des Gedichts selbst gedeutet zu sein.