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aus, und meint zu wissen, daß wie »schon jedes Wort im Gedicht seine Bedeu
tung verändert, so erst recht jedes >ich< und >du< « 158 * 160 161 . Ein »fiktives Ich« sei das
lyrische Ich, formulieren Wellek und Warren 168 , während Wolfgang Kayser
sich mindestens fragend zu den modernen Angriffen auf den Subjektivitäts
charakter der Lyrik verhält, wenn auch diesen zustimmend, weil der Begriff
des Subjektiven »die Aufmerksamkeit immer noch auf das reale Subjekt des
Sprechenden lenkt« 180 . Aber, um auf Stöckleins prägnante Formulierung
zurückzukommen, so gab es eine Goetheleserin, die sich niemals davon hätte
abbringen lassen, daß dieses Ich Goethe und dieses Du Friederike sei. Es war
die große Goetheliebende, Rahel Varnhagen, die am 11. Oktober 1815 das
Gedicht »Mit einem gemalten Band« wieder gelesen hatte und ihrem Gatten
darüber schrieb, was als Zeugnis einer besonders unmittelbar und instinktiv
sicher die Phänomene ergreifenden Seele hierhergesetzt sei:
»Und so endet’s:
Fühle, was dies Herz empfindet,
Reiche frei mir deine Hand,
Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches Rosenband I
Wie mit verstarrendem Eis auf dem Herzen blieb ich sitzen 1 Einen kalten
Todesschreck in den Gliedern. Die Gedanken gehemmt. Und als sie wieder
kamen, könnt’ ich ganz des Mädchens Herz empfinden. Es, es mußte sie ver
giften. Dem hätte sie nicht glauben sollen? ... Ich fühlte dieser Worte ewiges
Umklammern um ihr Herz: ich fühlte, daß die sich lebendig nicht wieder los
reißen ... Und zum ersten Male war Goethe feindlich für mich da. Solche
Worte muß man nicht schreiben; er kannte ihre Süße, ihre Bedeutung; hatte
selbst schon geblutet.. .« 181
Für ganz ausgeschlossen darf man es nicht halten, daß auch die Anhänger
der >objektivsten< Lyriktheorie, daß wenigstens unbefangene Leser auch heute
noch »Mit einem gemalten Band« als ein Gedicht aus des jungen Goethe un
mittelbarstem Liebeserfahren erleben, auch wenn sie nicht, wie Rahel, die
Lebensbezüge über das Gedicht hinaus verlängern. Aber selbst sie klingen
auch ihm immer mit an in der Beteuerung über »das schwache Rosenband«,
denn wir können unser Wissen von dem biographischen Bezug, den Goethe
in dieser Periode seiner lyrischen Dichtung in sie hineingenommen hat, nicht
168 P. Stöcklein, Dichtung vom Dichter gesehen, in: Wirk. Wort, 1. Sonderheft 1952, S. 84
169 Wellek-Warren, The Theory of Literature, New York 1949, S. 15
160 Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 334
161 Rahel. Ein Buch d. Andenkens, Bd. II, Berlin 1834, S. 352