Full text: Die Logik der Dichtung

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zählte Lüge, der Traum sind das Erlebnis des lügenden bzw. träumenden Ich, 
nur daß wir bei nicht-dichterischer, zweckgerichteter, für einen Wirklichkeits 
zusammenhang fungierender Aussage berechtigt sind, den Aussageinhalt 
einer verifizierenden Prüfung zu unterziehen. Dazu sind wir nicht mehr be 
rechtigt, wenn das lügende oder träumende Ich sich als lyrisches Ich setzt, sich 
in den >unverbindlichen< Kontext seines Gedichtes zurückzieht und seine Aus 
sage damit vom Zweck und Zwang der objektiven Wirklichkeit befreit. Dann 
können, dann dürfen wir nicht mehr feststellen, ob der Aussageinhalt wahr 
oder falsch, objektiv wirklich oder unwirklich ist — wir haben es nur zu tun 
mit der subjektiven Wahrheit und Wirklichkeit, nur mit dem Erlebnisfeld 
des aussagenden Ich selbst. 
Dem Begriff Erlebnis bzw. Erlebnisfeld sei erst an dieser Stelle, im Zusam 
menhang mit der Beschaffenheit des lyrischen Ich und mit Hinsicht auf den 
von der deutschen Literaturwissenschaft geschaffenen Begriff der Erlebnis 
lyrik, eine kurze klärende Betrachtung gewidmet. Erlebnislyrik ist ein histo 
risch bedingter Begriff, der, von Diltheys psychologischer Dichtungstheorie 
herkommend, bekanntlich zur Bezeichnung der mit dem ausgehenden 18. 
Jahrhundert entstehenden Lyrik des personalen Gefühls und dichterischen 
Gefühlsausdrucks dient, als Gegensatz zu einer im wesentlichen konventio 
nellen, gesellschaftlich geprägten, formelhaften Lyrik vorhergehender Epo 
chen. Der Begriff Erlebnis ist hier psychologisch und biographisch verstanden. 
Doch ist Erlebnis ein legitimer Begriff der deutschsprachigen Erkenntnis 
theorie, vor allem von Husserl als umfassender Begriff für alle Bewußtseins 
vorgänge (wahrnehmende, vorstellende, erkennende, phantasierende usw.) 
gebraucht. Er spricht von Bewußtseinserlebnissen und setzt auch Bewußtsein 
mit Erlebnis gleich, und zwar ausdrücklich als ein Terminus, der die Inten 
tionalität des Bewußtseins, als Bewußtsein von etwas, zum Ausdruck bringt, 
weshalb er sie auch »intentionale Erlebnisse« nennt 164 . In diesem erkenntnis 
theoretisch bzw. phänomenologisch umfassenden Sinn verstanden, ist es legi 
tim, den Erlebnisbegriff auf die lyrische Aussage anzuwenden, ohne ihn auf 
164 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, II, 1, Halle 1928, S. 343f. (Kap. V: Über 
intentionale Erlebnisse und ihre Inhalte). Als Vorstufe zu der Husserlschen Bestimmung der 
Intentionalität der Erlebnisse sind besonders W. Diltheys Darlegungen in der zweiten Studie 
der »Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften«, betitelt »Der Strukturzusammen 
hang des Wissens«, zu betrachten (Ges. Schriften VII, Leipzig u. Berlin 1927), wo Erlebnis 
als »die strukturelle Einheit von Verhaltungsweisen und Inhalten« (S. 23) beschrieben wird. —• 
Zu der Wort- und Begriffsgeschichte von Erlebnis vgl. auch H. G. Gadamer, Wahrheit u. 
Methode, Tübingen 1960, S. 56—66.
	        
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