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In dem Begriffe fingierte Wirklichkeitsaussage ist als konstituierendes Mo
ment enthalten, daß hier die Form der Wirklichkeitsaussage vorhegt, d. h. eine
Subjekt-Objekt-Korrelation, für die entscheidend ist, daß das Aussagesubjekt,
der Ich-Erzähler, von anderen Personen nur als von Objekten sprechen kann.
Er kann diese niemals aus seinem eigenen Erlebnisfeld entlassen, seine Ich-
Origo ist immer anwesend, sie verschwindet nicht, was, wie eingehend gezeigt
wurde, die Folge hätte, daß an ihrer Stelle fiktive lch-Origines erschienen. Und
dieses Gesetz, das man als solches wohl bemerkt und als die Einheit der Per
spektive, des Blickpunkts bezeichnet hat, bewirkt, daß die in einer Ich-Erzäh
lung auftretenden Personen stets nur in einer Beziehung zum Ich-Erzähler
gesehen werden. Dies bedeutet nicht, daß sie alle in einer persönlichen Bezie
hung zu ihm stehen müßten, sondern nur, daß sie von und nur von ihm gese
hen, beobachtet, geschildert werden. G. Misch, der die Autobiographie, also
die echte autobiographische Wirklichkeitsaussage, nicht als einzige Entste
hungsquelle der Ich-Erzählung gelten lassen möchte, meint, daß eine andere
ebenso wichtige Ursprungsquelle »die Lebendigkeit des produzierenden Vor
stellens« sei, das sich »als Ich-Darstellung leichter und lustvoller ergibt als das
objektivierende Sichversetzen in eine dritte Person« 182 . Er schließt das aus dem
häufigen Vorkommen der Ich-Form in Märchen- und Wundergeschichten pri
mitiver Völker und knüpft daran die traditionelle Begründung, daß sie zum
Zwecke der Glaubhaftmachung von Wunderdingen seit alters gern gewählt
worden sei und noch gewählt werde. Wie es sich damit verhält, werden wir
später sehen. Im jetzigen Zusammenhang ist zunächst die Behauptung Mischs
zu prüfen, daß das produzierende Vorstellen sich in der Form der Ich-Darstel
lung leichter ergibt als in der Er-Erzählung. Daß dies nicht gilt, wenn man
beide Formen unter dem Gesichtspunkt der logischen Struktur vergleicht, die
sich unmittelbar als ästhetisches Erlebnis dieser Formen auswirkt, ergibt sich
sogleich. Aber eben von der (Dilthey-Misch’schen) psychologischen Sicht her
erschließt es sich nicht. Sondern es ist die logische Form, die erkennbar werden
läßt, daß das produzierende Vorstellen, das lustvolle Phantasieren, das Sich-
als-»second-creator«-Gebärden gerade umgekehrt im Bereiche der Fiktion, der
Er-Erzählung, bedeutend leichter und gefahrloser vor sich geht als in der wie
stark auch immer fingierten Wirklichkeitsaussage, die die Form der Ich-Erzäh
lung ist. Denn eben diese Form und ihr Gesetz ist es, die der freischöpferischen,
erzeugenden Phantasie, dem noietv die Grenzen setzen, um die die Fiktion
sich nicht zu kümmern braucht. Und nicht zufällig, sondern strukturell bedingt
182 Ebd., S. 60
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