Full text: Die Logik der Dichtung

1771 usw., die als identisch mit den wirklichen Daten der Wetzlarer Zeit die 
Forschung nicht schwer hatte festzustellen. Aber für die logische Struktur des 
Ich-Romans kommt es nicht etwa auf solche >autobiographische< Datierungen 
an. Es bedarf der Erwähnung nicht, daß sie durchaus auch in eine Fiktion 
hineingesetzt werden können. Worauf es strukturell ankommt, ist dies, daß 
das »ich war« oder auch »es war« des Ich-Romans die Vergangenheit des Ich- 
Erzählers, das »er war« der Fiktion die fiktive Gegenwart der Romanperson 
bedeutet (Entsprechendes gilt für Präsens und Futurum). Allein dieser seman 
tisch-phänomenologische Unterschied schon enthält den Unterschied des Er 
lebnisses, das wir durch eine Ich-Erzählung bzw. durch eine Fiktion erfahren: 
das Erlebnis der -—■ wie immer fingierten — Wirklichkeit der ersteren, das der 
Nicht-Wirklichkeit der letzteren. 
Im Briefroman erscheint aus den oben angeführten Gründen das Präteri 
tum besonders wirklichkeitsnah und natürlich, und schon hieran liegt es, 
daß er uns als weniger >epische< Form anmutet wie etwa eine Ich-Erzählung 
von der Art des »Simplizissimus« oder des »Grünen Heinrich«. — Aber 
auch der Briefroman ist keine echte, sondern eine fingierte Wirklichkeits 
aussage, und als solche Dichtung — eine Dichtung, die ihrer Struktur nach 
zur episch-fiktionalen Form hinstrebt. Wie geschieht das und wie macht es 
sich bemerkbar ? Wir betrachten ein Stück aus dem Werther: 
Am 12. August. Gewiß, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern 
eine wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu nehmen ... 
>Borge mir die Pistolen<, sagte ich, >zu meiner Reise<! >Meinetwegen<, sagte er, »wenn du dir 
die Mühe nehmen willst sie zu laden; bei mir hängen sie nur pro forma« leb nahm eine 
herunter, und er fuhr fort: >Seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, 
mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun haben« Ich war neugierig, die Geschichte zu 
wissen. — >Ich hielt mich«, erzählte er, >wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde 
auf, hatte ein paar Terzerolen, ungeladen, und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten 
Nachmittage, da ich müßig sitze, weiß ich nicht, wie mir einfällt: wir könnten überfallen 
werden, wir könnten die Terzerolen nötig haben und könnten ... du weißt ja, wie das ist. 
Ich gab sie dem Bedienten, sie zu sputzen und zu laden; und der dahlt mit den Mädchen, will 
sie erschrecken, und Gott weiß wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt 
und schießt den Ladstock einem Mädchen zur Maus herein an der rechten Hand und zer 
schlägt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentieren und die Kur zu bezahlen obendrein 
und seit der Zeit laß ich alles Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht? Die Gefahr 
läßt sich nicht auslernen. Zwar< — Nun weißt du, daß ich den liebhabe bis auf seine Zwar; 
denn versteht’s sich nicht von selbst, daß jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet ? . .. 
Diese Stelle zeigt in nuce die Versuchung, der der Ich-Roman unterliegen 
kann und in den meisten Fällen unterliegt, die Versuchung, sich der fiktionali- 
sierenden Mittel zu bedienen, die sozusagen eben noch erlaubt, noch möglich
	        
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