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sind, ohne überhaupt die Ich- oder die Aussagestruktur aufzuheben. Inso
fern der Ich-Roman sich von der Lyrik, dadurch unterscheidet, daß er
nicht nur das Erlebnisfeld des Ich als solches, sondern auch die Objekte
dieses Erlebens in ihrer ihnen eigenen Objektivität und Besonderheit schildern
will, wirkt in ihm die Tendenz zum Epischen. Wobei diese Tendenz durch das
Gesetz der Aussage beschränkt wird, das das Epische bloß in seiner sozusagen
noch vorfiktionalen Form zuläßt. Eine solche, nicht die logische Möglichkeiten,
aber die Gepflogenheiten der Aussage überschreitende Berichtform ist die wort
getreue, in direkter Form wiedergegebene Rede einer dritten Person durch den
Ich-Erzähler, wie hier die Erzählung Alberts in Werthers Brief, die eine Ich-
Erzählung sozusagen in zweiter Potenz ist. Die natürliche Form der Wieder
gabe der Worte eines anderen ist die indirekte Rede, die im Deutschen kon
junktivisch eingefügt wird, aber bei längerer Ausdehnung auch wohl wieder
in den Indikativ übergehen kann. Bereits eine Briefstelle, in der eine derartige
direkte Berichtform oder ein ausgeführter Dialog vorkommt, erweist sich
von romanhafter Art. Die Tendenz zur Entfaltung ins Episch-Fiktionale
hinein macht sich bemerkbar. Denn die Rede und die Wechselrede gehört,
wie oben gezeigt wurde, ja zu den wichtigsten fiktionalisierenden Mitteln,
in der denn auch die epische und die dramatische Form Zusammenhängen.
In der direkten Rede tritt jede Gestalt in ihrem Für-sich-Sein, ihrer von jedem
Aussagezusammenhang unabhängigen Wirklichkeit hervor. Sie ist als solche
eine Erscheinung der menschlichen Wirklichkeit selbst. Und sie hat im ge
samten Sprachsystem ihren adäquaten Ort nur dort, wo eine Mimesis der
Wirklichkeit hergestellt wird: in der epischen und dramatischen Fiktion.
Denn auch in der epischen Fiktion bedeutet sie — was in der dramatischen
sich von selbst versteht — nicht Wiedergabe einer Rede durch einen anderen,
den fälschlich so benannten >Erzähler<, sondern sie ist die erzählte, die er
zählend erzeugte fiktive Wirklichkeit ebenso wie die Gestalt selbst. Es wurde
oben gezeigt, wie die fluktuierende Erzählfunktion sich in Dialog, erlebte
Rede und dergleichen verwandelt. Die Ich-Erzählung hat aber die Form der
Aussage, der Brief-, Tagebuch- oder Memoirenschreiber ist ein wie immer
auch fingiertes historisches Aussagesubjekt und keine fluktuierende Erzähl
funktion. Denn sie ist nicht Mimesis. Direkte Rede in seinem Bericht ist kein
mimetisches Mittel, sondern gewissermaßen die /Verleihung des Wortes<
an die Person, von der er berichtet. Diesen Aspekt weist eine direkte Rede
noch deutlich im Briefroman auf. Sie ist in einem solchen zwar schon ein
deutlicher Keim zur Episierung, aber durch die Eigenschaft des Briefes noch
ein mögliches Element der natürlichen Aussageform. Und dies eben deshalb,