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problematisch und sogar anfechtbar, der Begriff der Wirklichkeit, der hier
auftritt, zunächst verwirrend erscheint, so wird sich bei genauer Analyse der
hier vorliegenden Verhältnisse dennoch heraussteilen, daß in der Tat erst die
Struktur der Aussage das vieldiskutierte Verhältnis von Sprache und Wirklich
keit und damit auch das von Dichtung und Wirklichkeit erhellt. Es wird sich —
worauf bei unserem Thema alles ankommt — zeigen, daß nicht der Begriff der
Wirklichkeit selbst, sondern der der Wirklichkeitsaussage das entscheidende
Kriterium für die Ordnung der Dichtungsgattungen liefert. Es gilt also jetzt,
den Begriff der Wirklichkeitsaussage zu definieren.
Wir gehen von einem dokumentierten Text, einer Stelle aus einem Briefe
Rilkes an Lou vom 4. 12. 1904 aus:
Mitten im Geläute von zehn kleinen Glocken ging es durch eine lange Lindenallee — der
Schlitten bog aus, und da war der Schloßplatz, eingefaßt von den kleinen Seitenflügeln des
Schlosses. Dort aber, wo vier Treppen mühsam und schwer aus dem Schnee des Platzes zur
Terrasse hinaufstiegen und wo diese Terrasse, von einem vasengeschmückten Geländer be
grenzt, auf das Schloß vorzubereiten glaubte, dort war nichts, nichts als ein paar schneever
sunkene Büsche, und Himmel, grauer, zitternder Himmel, aus dessen Dämmerung sich
fallende Flocken auslösten.
Diese Stelle besteht aus einer Gruppe von objektiven Behauptungssätzen,
in denen kein personales Pronomen vorkommt; denn an einem solchen Be
hauptungssatz ist die Struktur der Aussage zunächst am deutlichsten zu de
monstrieren. Auch ist ein Brief ein besonders gut geeigneter Text dafür, weil
wir es bei ihm mit einem individuellen (historischen) Aussagesubjekt zu tun
haben. Wir stellen nun die zunächst tautologisch erscheinende Behauptung
auf, daß die in diesen Sätzen beschriebenen Dinge und Naturerscheinungen
darum >wirklich< da- und so gewesen sind, weil sie in einem als echt ausgewie
senen Briefe beschrieben sind und der Briefschreiber sie nicht als Phantasie
oder Traum, sondern als von ihm so gesehenes, >wirklich< Erlebtes beschreibt.
Darin ist umgekehrt enthalten, daß die beschriebenen Dinge unabhängig davon,
ob sie beschrieben sind oder nicht, vorhanden waren und sich so verhalten haben.
Napoleon z. B. hat dann und dann gelebt und die und die Kriege geführt un
abhängig davon, ob irgendwelche Dokumente darüber berichtet haben oder
nicht. Umgekehrt wissen wir, die Nachlebenden, daß Napoleon gelebt und
Kriege geführt hat, weil diese Dokumente sich als historische, als Wirklich-
keitsdokumente präsentieren und ausgewiesen sind, so wie die von Rilke be
schriebene Schlittenfahrt sich als wirklich stattgefundene ausweist, weil sie in
einem Briefe als einem Wirklichkeitsdokument beschrieben ist.
Diese an Wirklichkeitsdokumenten analysierten Beispiele könnten nun