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Ursache, die, wie wir in den nächsten Abschnitten im einzelnen nachweisen
werden, in ganz bestimmten Phänomenen des fiktionalen Erzählens ihren
grammatisch-semantischen Ausdruck findet. Daß auch dieser Romananfang
des »Jürg Jenatsch«, der sich rein verbal nicht von einer möglichen historisch
biographischen Schilderung unterscheidet, das Erlebnis der Nicht-Wirklich
keit hervorruft, hat seine Ursache nicht in dem Erzählten selbst, sondern
in dem >Erzähler<, wie wir hier noch im traditionellen Stile sagen wollen. Denn
weil wir wissen, daß wir einen Roman und keine Reisebeschreibung lesen,
beziehen wir, ohne uns dessen bewußt zu sein, die geschilderte Landschaft nicht
auf den Erzähler. Wir wissen, daß wir diese nicht als dessen Erlebnisfeld auf
zufassen haben, sondern als das Erlebnisfeld anderer Personen, deren Auf
treten wir erwarten, weil wir einen Roman lesen — fiktiver Personen, der
Romangestalten.
Jetzt erscholl aus der Ferne . . . das Gebell eines Hundes. Hoch oben an dem . . . Hange
hatte ein Bergamaskerhirt im Mittagsschlafe gelegen. Nun sprang er auf . . . zog seinen
Mantel fest um die Schultern und warf sich in kühnen Schwüngen von einem vorragenden
Felsturme hinunter zur Einholung seiner Schafherde, die sich in weißen beweglichen Punkten
nach der Tiefe hin verlor .. . Und immer schwüler und stiller glühte der Mittag . .. End
lich tauchte ein Wanderer auf ... Jetzt erreichte er die zwei römischen Säulen. Hier entle
digte er sich seines Ränzchens . .. Schnell bedacht zog er eine lederne Brieftasche hervor und
begann eifrig die beiden ehrwürdigen Trümmer auf ein weißes Blatt zu zeichnen. Nach einer
Weile betrachtete er seiner Hände Werk mit Befriedigung ..., ließ sich auf ein Knie nieder
und nahm mit Genauigkeit das Maß der merkwürdigen Säulen. »Fünfthalb Fuß« sagte er
vor sich hin. »Was treibt Ihr ? Spionage ?« ertönte neben ihm eine gewaltige Baßstimme.
Wir werden unten sehen, warum in diesem Textstück erst der Satz »Schnell
bedacht zog er eine lederne Brieftasche hervor« den eigentlichen Beweis liefert,
daß wir es wirklich mit einem Roman und nicht etwa einer lebhaften Augen
zeugenschilderung, also immer noch einem historischen Dokument, zu tun
haben. Denn dieser Beweis geht ein in den Aufweis der grundlegenden Phäno
mene, die den kategorialen Unterschied des fiktionalen Erzählens von der Aus
sage an den Tag bringen.
Daß es die Roman- oder allgemeiner: die epischen Personen sind, die eine
erzählende Dichtung zu einer solchen machen, schien als etwas so Banal-
Selbstverständliches, ja Tautologisches hingenommen worden zu sein, daß
keine Theorie der epischen Dichtung sich bei dieser Tatsache aufgehalten hat.
Aber diese Tatsache erweist sich nicht mehr als ganz so banal und tautologisch,
wenn man die weitere Tatsache berücksichtigt, daß die Romanpersonen
fiktive Personen sind. Denn erst diese Tatsache erschließt die Struktur der lite
rarischen Fiktion, der epischen sowohl wie der dramatischen, die nun unter